MANUEL GÖTTSCHING | Hoheit weicht (nicht ohne Schwung…)

Neben meiner Profession als Verwaltungstrainer und Coach komponiere, produziere und veröffentliche ich seit 1980 auch Musik. Im Rahmen meiner „S“-Trilogie – das waren drei Musikalben mit Begriffen, die jeweils mit einem „S“ endeten (= „Moods“/2014, „Leaves“/2016 und „Cats“/2018), wobei das „S“ sich aber auf SOUND bezog, weil mir bei ihnen der Klang in allen Aspekten wichtiger war als die Musik – ging es bei „Leaves“ (auch) darum, dass Menschen unsere Lebensgemeinschaft verlassen. Ob durch Zufall, Alter, Krankheit oder von eigener Hand: Mensch kann es nicht ändern, wenn für einen anderen dessen Zeit „gekommen“ ist, zu gehen … und deshalb sollte man sich auch keine Vorwürfe machen, was er oder sie versäumt hat, den Verflossenen zu sagen oder was man noch alles hätte unternehmen können / sollen / müssen.

Apropos „loslassen“: Nachdem die Elektromusikszene vor knapp acht Monaten um den großen Klaus Schulze trauern musste und kurz danach noch einmal um Evangelos Papathanassiou, gab es nun auf der Webseite von Ash Ra Tempel- / Ashra-Mastermind Manuel Göttsching die Nachricht, dass dieser den beiden bereits vor einer Woche gefolgt ist: 70 Jahre wurde der Berliner Musiker alt. Manuel lernte ich 1981 kennen und verbrachte damals für eine Zeitungsreportage zum ersten Mal mehrere Tage mit ihm. Und er bat mich jeden Abend in seinem Jaguar, in dem er mich mitnahm um mir die Musikszene von „Berlin-West“ zu zeigen. So lernte ich damals die einschlägigen Clubs und Lokale kennen, traf dort u.a. auf Interzone-Sänger Heiner Pudelko (… der 1995 verstorben ist und dessen Webseite ich seit nun schon seit zwei Jahrzehnten betreue …) und Toningenieur-Legende Udo Arndt.

1985 traf ich Manuel Göttsching erneut, diesmal für eine Rundfunkreportage, und sein Empfang für mich war so herzlich und warm wie zuvor, gerade so, als ob wir in den vier Jahren dazwischen in engem Kontakt geblieben wären. Auch sonst war Manuel kein Kind von Traurigkeit; mehr als einmal fuhr er uns beide am frühen Morgen nicht mehr ganz nüchtern (ich sage nur: Anis-Schnaps im „Einstein“) aber trotzdem sicher zu sich zurück ins heimische Studio RoMa, der Schöneberger (T)Raumstation für Rosi und Manuel – daher der Name. Ebenda sei er am 4. Dezember 2022 „im Kreise seiner Familie friedvoll eingeschlafen“ heißt es auf der Webseite.

Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass Manuel Göttsching mir persönlich von allen Synthesizer- und Elektromusikgrößen, die ich kennenlernen durfte, am nahesten war, was daran lag, dass er aus meiner Sicht elektronische Musikinstrumente, Sequencer-Rhythmen und Gitarrenklänge mit Hall- und Echoeffekten am perfektesten zu einem Electronic-Rock verschmolz, so wie ich ihn seinerzeit auch mit meiner Band Velvet Universe machte oder machen wollte.

Zweifelsohne zählte er aber auch zu den international bekanntesten Musikern der sog. „Berliner Schule“ und wurde als Pionier für spätere musikalische Stile des Genres verehrt. Seine „Inventions for Electric Guitar“ aus dem Jahre 1974 waren kleine Meisterwerke des Multiplayback, die er alleine und noch ganz ohne Unterstützung elektronischer Musikinstrumente nur mit Plektrum und seiner Fingerfertigkeit einspielte. Ein wahres Saiten-Mantra: diszipliniert bis hin zu damals kaum gekannter Präzision, die einem Mike Oldfield ebenbürtig war. Da firmierte er noch als Ash Ra Tempel, doch nur wenig später, nach seinem Deal mit Virgin Records, verkürzte er den Bandnamen auf Ashra. Wobei „Bandnamen“ bei ihm nicht unbedingt bedeutete, dass er auf den Platten mit anderen Musikern kooperierte … noch nicht.

Auf den Alben „New Age of Earth“ (1977) und „Blackouts“ (1978) hatte Manuel Göttsching – dessen große Liebe (… neben der o.g. Rosi; siehe auch bei „Ash Ra Tempel: Starring Rosi“…) seiner Gibson SG Special Cherry Red Gitarre galt – schon den Stil späterer Ashra Platten gefunden, war jedoch immer noch solo unterwegs. „Unterwegs“ sein zu wollen, war dann aber doch der Grund für Manuel, Korrelationen mit anderen Musikern einzugehen und so waren auf dem 1979er Album „Correlations“ (s.i.c.) erstmals Schlagzeuger Harald Großkopf und Keyboarder Lutz „Lüül“ Ulbrich in Komposition und Produktion eingebunden. Das gab dem Ash Ra Sound meiner Ansicht nach gleich mehr „Drive“ und Wiedererkennungswert. „Belle Alliance“ aus dem Jahre 1980 markierte dann für Ashra den Höhepunkt des Trio-Erfolgs.

Als ich Manuel 1981 in seiner Studio-Wohnung in der Fuggerstraße traf, sinnierte er aber schon über ganz andere Klänge, wollte eine Art generative Musik erschaffen, die sich mystisch, magisch weiterentwickelt, anders als alles, was man bisher gehört hatte: es war die Zeit gekommen für „E2-E4“. Ganze Nächte hindurch konnte man mit ihm über den Sinn und Zweck von Elektromusik sprechen, über warme Gibson- und kalte Fender Gitarren, ARP Sequencer und EMS Synthies und ein oder zwei Mal durfte ich auch seinen EKO Rhythm Computer programmieren – eine besondere Ehre für mich. Ebenso ehrte es mich, dass sich Manuel mir öffnete, als ich ihm über mein Interview mit Mike Oldfield vom Januar 1981 berichtete und dessen Kritik am Labelchef Richard Branson. Denn genau das bestätigte auch er und dann spielte mir Manuel „E2-E4“ vor und verriet, Richard Branson habe ihm prophezeit, mit dem Titel könne man „ein Vermögen machen“. Aber das wollte er nicht, schon gar nicht mit dem Virgin-Boss. „Weißt Du“, sagte er mir, „ich habe schon so viel Musik veröffentlicht. Irgendwo auf der Welt wird jeden Tag irgendeine Platte von mir verkauft und davon kann ich leben. Mehr ist nicht nötig. Hier im Studio RoMa habe ich alles, was ich brauche.“

„E2-E4“ war dann auch der längste Einzeltitel, den er je einspielte, mit rund 58 Minuten Länge (… bei der Premiere 1984 als LP beim Plattenlabel von Klaus Schulze gerecht auf zwei Plattenseiten verteilt …) eine live improvisierte Sensation aus nur zwei hypnotischen Synthesizerakkorden, Rhythmus und Gitarrenspiel, die über einige Umwege sechs Jahre später den Weg in die internationalen Clubs fand, als „Sueño Latino“ ihn überarbeiteten und neu veröffentlichten. Britische Ambient-DJs sampelten das Riff und loopten es: so fand Manuel Göttschings Original seinen Weg nach New York und in die Herzen vieler Ambient-Techno Fans … bis heute.

„Hoheit weicht (nicht ohne Schwung…)“ ist die Bezeichnung für einen bestimmten Teil des „E2-E4“-Epos und so sehe ich auch die Sache mit Manuels Ableben. Zeit für Trauer, das muss sein, aber es muss auch die Zeit kommen, loszulassen. Seine Musik lebt ja fort.

Geschrieben und © 2022 von Rainer W. Sauer für CBQ Verwaltungstraining & BRAIN.EVENTS

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