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Iwan IV. Wassiljewitsch war der erste Großfürst von Moskau, der sich zum Zaren von Russland krönen ließ. Das war im 16. Jahrhundert und er wurde vor allem deshalb bekannt als „furchteinflößend“ und „streng“ [Anm.: die gebräuchliche Bezeichnung „der Schreckliche“ geht auf eine ungenaue Übersetzung zurück], weil es ihm gelang, den Widerstand der Bojaren in Russland niederzuschlagen und das Reich nach Osten und Süden auszudehnen.
Russland, also Großrussland, zu einen und stark zu machen ist auch Wladimir Putins Strategie. Im Osten, sprich: in Richtung China, ist dies unmöglich; bleibt also nur der Westen übrig und dort die Grenzen der ehemaligen UdSSR inklusive des Baltikums, der Republik Moldau und Weißrusslands. Das Reich der Mitte dankte ihm seine Zurückhaltung im warmen Worten während des Ukraine-Krieges. „Egal wie tückisch der internationale Sturm ist, China und Russland werden ihre strategische Entschlossenheit aufrechterhalten und die umfassende kooperative Partnerschaft in der neuen Ära vorantreiben“, versicherte ihm Peking. Aber eine Expansionsstrategie umzusetzen ist in der Realität nicht einfach. Schon in Sunzis Jahrtausende altem Werk über die Kriegskunst gibt es den Teil, was zu tun ist, wenn Wunsch und Realität auseinanderdriften. Dies sollte tunlichst „vermieden“ werden, heißt es dort kryptisch, weshalb diese Weisheit dem Russischen Präsidenten nicht wirklich weiterhelfen, denn dessen Probleme mit der nicht oder nur schlecht funktionierenden Strategie sind anderer Art. – Was genau lief schief?
Zum einen ging Putin davon aus, die „befreiten“ Ukrainer würden ihre „russischen Freunde“ mit „Freudentränen in den Augen“ empfangen. So legt es der irrtümlich veröffentlichte TASS-Kommentar vom Beginn des Krieges nahe, vorbereitet um einen schnellen Sieg zu bejubeln. Die Idee des Überraschungsangriffs wurde taktisch möglicherweise deshalb gewählt, weil der Kreml annahm, dass man trotz aller militärischen Übermacht nicht ausreichend Kräfte zur Verfügung hat, um die Ukraine großflächig zu kontrollieren. Tatsächlich erwarteten Putins Armee Hass und erbitterter Widerstand. Schwerwiegender war aber, dass er davon ausging, die ukrainische Armee würde rasch kapitulieren. In Wirklichkeit kämpfte sie die ersten Tage so effektiv, dass Russlands Militär sich an vielen Fronten zurückziehen musste. Auch wenn es Moskau vehement bestreitet, erlitt sie schon früh die wohl bisher höchsten Verluste bei einem Auslandseinsatz überhaupt. Fest eingeplant in Wladimir Putins Strategie war ebenso, dass sowohl Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj als auch der frühere Boxweltmeister und heutige Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko in den Westen fliehen würden. Doch beide blieben in der Hauptstadt und organisierten den Widerstand ihrer Bürger gegen die russischen Invasoren.

Besonders fatal war darüber hinaus die Fehleinschätzung des Russischen Präsidenten in Bezug auf die Armee der Ukraine. Er ging ohne Zweifel von einer drückenden Überlegenheit der russischen Panzer und der Luftwaffe aus. Allerdings versorgten Nato-Staaten die Ukraine schon Monate vor der Invasion mit modernen Luftabwehrwaffen. Diese wurden überfallartig eingesetzt und nur minutenlang eingeschaltet, waren deshalb nur schwer zu orten und vernichteten viele Transporthubschrauber, Flugzeuge und Drohnen – von letzteren allein pro Tag bis zu zehn Stück. Panzer wurden von den Ukrainischen Soldaten ebenfalls überfallartig angegriffen, weshalb es auch hier zu großen Verlusten kam. Außerdem rechnete Wladimir Wladimirowitsch Putin fest damit, dass der Westen in Bezug auf die Ukraine nur zögerlich reagieren würde. Stattdessen zeigte der sich innerhalb kürzester Zeit geschlossen gegen die Aggressoren und verhängte die schärfsten Sanktionen, die es jemals gegen Russland gab.
Obwohl der Russische Präsident seine Nation niemals in einem atomaren Konflikt führen würde, droht Putin mit Atomwaffen. Als Begründung wurden die Sanktionen des Westens sowie „aggressive Äußerungen hoher Amtsträger führender Nato-Länder“ genannt. Er warnte die USA davor, weiter mit der von ihm so bezeichneten Verschwörung zur Zerstörung Russlands fortzufahren. Sollte dieses Ziel erreicht werden, dann könnte der Welt eine dystopische Krise bevorstehen, die in einer „großen atomaren Explosion“ enden würde, weil, so Putins Logik, eine Zerschlagung Russlands zu instabilen Einzelstaaten führen würde, mit „Freaks, Fanatikern und Radikalen“, die über eine maximale Anzahl von Atomwaffen verfügen würden. Was martialisch klingt, ist aber kaum mehr als ein Schachzug der Verzweiflung mit minimalen Erfolgschancen, einer der zeigt, dass Wladimir Putin nach und nach die Handlungsoptionen ausgehen.
Hinzu kommt, dass er mit dem Kreml nicht nur Krieg gegen die Ukraine führt, sondern auch einen gegen das eigene Volk. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sollen allein in den ersten zehn Tagen seit Beginn der Invasion mehr als 13.000 Menschen festgenommen worden sein. Nach dem eilig beschlossenen Fake News-Gesetz drohen allen russischen Bürgerinnen und Bürgern, die falsche Nachrichten über das Militär verbreiten, harte Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Gefängnis. Was jedoch eine „falsche Nachricht“ ist, das entscheidet allein der Kreml mit teilweise absurden Konsequenzen. So droht etwa bei mehrmaliger Teilnahme an Anti-Kriegs-Demonstrationen eine Pfändung der privaten Konten, was dazu führt, dass die verhängte Geldstrafe nicht mehr beglichen werden kann und ein Gefängnisaufenthalt folgt.
Keine Frage: Wladimir Putin hatte das alles so nicht gewollt. Doch je mehr schief läuft, umso weniger gibt er sich die Schuld daran, sondern prangert den Westen an und seine in Ungnade gefallenen Russen. Unabhängig davon, wie er sich die ganzen Jahre nach innen und außen hin präsentiert hatte, egal aus welchem Blickwinkel er die Zahlen 6 oder 9 betrachtet hat, in seinem Innern hatte der Russische Präsident stets seinen unveränderbaren Blick auf die Welt mit einem einzigen Ziel: ein neues Großrussland zu erschaffen mit ihm als bewundertem unfehlbaren Oberhaupt. Dadurch wird er gelenkt und lenkt wiederum seine Aktivitäten. Noch hat er viele Anhänger, die ihm bedingungslos folgen, doch ungeplante hektische Strategiewechsel führen zu Veränderungen im Plan, die selbst mit totalitären Mitteln kaum noch im Griff zu behalten sind.

Von „If 6 was 9“ ist bei Sunzi nichts zu lesen. Aber hektische Strategieänderungen sind bei ihm ein Tabu, denn nur ohne sie lässt sich nach seiner Sicht die aufgrund der Folgen der Kriegsführung drohende Vernichtung des eigenen Volkes verhindern. Alle einzelnen taktischen Maßnahmen sollten diesem Ziel untergeordnet werden, so Sunzi. Damit der Weg nicht – um Friedrich Glasl zu bemühen – von der Drohstrategie (= Stufe 6) zum Abgrund (= Stufe 9) führt. Denn „der umsichtige Kämpfer [Anm.: bringt sich] in eine Position, die die Niederlage unmöglich macht, und er versäumt nicht den richtigen Augenblick, den Feind zu schlagen“. Beides ist Wladimir Wladimirowitsch Putin bisher nicht gelungen und angesichts der drohenden Auswirkungen des Krieges auf die russische Nation ist anzunehmen, dass es eines Tages für beide Punkte zu spät sein könnte, denn er folgt in seinem Verhalten bisher erschreckend genau den von Glasl in den 1960er Jahren beschriebenen Eskalationsstufen bei Konflikten.
Damit schließt sich der Kreis zum Beginn meiner Betrachtung. Auch wenn der Ausgang des Ukrainekrieges in den Sternen steht ist eines klar: sowohl Putins Strategie („Freudentränen in den Augen“) als auch seine Taktik („rasche Kapitulation“) haben nicht funktioniert. Selbst wenn Russland gegen die Ukraine siegreich sein sollte, so sind die Auswirkungen auf beide Staaten verheerend. Die natürliche Freundschaft zwischen den Nationen ist im Blut von Tausenden Toten versunken und die angerichteten Zerstörungen sowie die Flucht mehrerer Millionen Menschen hat die Infrastruktur der Ukraine derart vernichtet, dass es auch Russland selbst um Jahrzehnte zurückwirft. Es liegt an Putin selbst, sein Volk davon zu überzeugen, dass daran allein „der Westen“ die Schuld trägt.
Im Grunde jedoch ist schon heute klar: Der Russische Präsident kann diesen Krieg weder gewinnen, noch sich selbst retten. Dass der Kreml-Chef schon nach nur einer Woche des Krieges mit Atomwaffen gedroht hatte, war Ausdruck von Verzweiflung. Was folgte war massive Gewalt, doch auch die hat ihm bis heute kaum etwas gebracht. Er muss also weiter handeln und vor allem verhindern, dass die von seiner Propagandamaschine verbreiteten alternativen Wahrheiten auffliegen. Nahezu jeder Russe hat Verbindungen in die Urkaine, seien es Freunde dort oder sogar Verwandte. Wenn den Russinnen udn Russen erst einmal klar wird, was Putin mit seiner Kriegsentscheidung den menschenind er Ukraine un den Müttern russischer Soldaten unmittelbar angetan hat und mittelbar dem eigenen Volk, wenn sich herausstellt, wie und was dort getötet, traumatisiert und zerstört wurde, verlieren bricht der Glaube an die Wahrhaftigkeit seiner Propaganda und sein Macht- und Kontrollapparat innerhalb kürzester Zeit in sich zusammen.
Es gehört zum Verständnis Glasls Phase 9 hinzu, dass es auch eine Phase 10 gibt: Die Verbitterung nach einem Zusammenbruch von Strategie und Taktik, wenn es nur noch darum geht, zur Vernichtung des Gegners auch die eigene Vernichtung in Kauf zu nehmen – vergleichbar mit dem Niedergang Nazideutschlands.
Geschrieben von und © 2022 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining