Thiel: „Das ist anscheinend wahre Liebe.“ | Boerne: „Das habe ich Ihnen doch schon einmal erklärt. Liebe ist nichts anderes als ein volkstümlicher Begriff für eine Fehlfunktion im Orbitofrontalkortex.“ (aus „TATORT: Ein Freund, ein wahrer Freund“)
Das Gefühl bei frisch Verliebten von „Schmetterlingen im Bauch“ und eine rosa-roten Brille, durch die alles so perfekt „matcht“, der erhöhte Herzschlag, wenn man den oder die andere sieht, ist – wenn man es unromantisch betrachtet – lediglich eine durch Hormone gesteuerte, evolutionär nützliche Illusion, um die Fortpflanzung der Menschheit zu sichern. Doch was weiß die Wissenschaft tatsächlich von der (gefühlt) mächtigsten Kraft im Leben und wie sie entsteht?
Emotionen werden im limbischen System generiert, das nicht mit dem Bewusstsein kooperiert. Durch das Einbeziehen der Hirnrinde werden diese Emotionen fühlbar, werden zu Gefühlen. Ob diese sich in Angst, Freude, Hass oder Liebe äußern, hängt davon ab, welche Bereiche des Kortex aktiv sind. Der Orbitofrontalkortex hat Verbindungen zum Pulvinar, zu verschiedenen Teilen des Frontallappens sowie zum Temporallappen und zum Gyrus cinguli. Störungen oder Verletzungen des Orbitofrontalkortex die angemessene Reaktion auf äußere oder innere Reize in Emotion oder Verhalten beeinträchtigen.
Dies liegt daran, dass Gefühle (wissenschaftlich betrachtet) aus Sicht der Evolution nichts anderes darstellen, als einen Weg des Menschen, äußere Reize zu beurteilen und entsprechend darauf zu reagieren. So warnen uns die Angst vor einem Abgrund oder das Unbehagen vor unbekannten Pflanzen oder Tieren vor Gefahren für Leib und Leben. Umgekehrt vertrauen wir uns anderen Menschen, die wir mögen unbesorgt an oder fühlen uns in Situationen, die wir kennen, geborgen. Damit wir uns aber „Ich liebe Dich.“ oder „Ich habe Angst.“ eingestehen können, müssen entsprechende Emotionen in unser Bewusstsein dringen und zu Gfühlen werden.
Dies ist jedoch – so umfangreich ein Mensch sein Gefühlsleben auch empfinden mag – eher in unserem Leben nicht die Regel sondern eher eine Ausnahme, denn das limbische System, das sich schon früh in der Evolution der Säugetiere entwickelt hat, generiert in unserem Oberstübchen zwar rund um die Uhr Emotionen, was wir jedoch meist kaum bemerken. Erst wenn die Signale dieses Systems in die evelutionär jüngere Hirnrinde gelangen – was ein durchaus komplexer Prozesses ist – werden Liebe, Hass, Trauer, Freude und auch Wut von unserem Bewusstsein wahrgenommen.
Wer beim Laufen bei Glätte trotz Achtsamkeit unverhoff stürzt, der durchlebt Angst über gleich zwei unterschiedliche Mechanismen. Zuerst erfolgt eine blitzschnelle aber ungenaue Analyse durch eine Information von den Sinnessystemen direkt zur sog. Amygdala des limbischen Systems, die innerhalb weniger Millisekunden analysiert, ob der Sturz schädlich oder vielleicht gar nützlich für uns ist. Je nach dem Ergebnis der Abwägung wird über Hypothalamus und Hirnstamm die passende körperliche Defensivreaktion angeschoben: Das Herz beginnt schneller zu schlagen, der Blutdruck steigt, die Hände versuchen den Sturz abzufangen, noch bevor uns überhaupt bewusst geworden ist, dass wir hinfallen.
Zeitgleich läuft vom Thalamus zur Hirnrinde der deutlich langsamere zweite Weg. Dafür verarbeitet dieses Gehirnsystem die Situation nun detailgenauer, denn daran sind der visuelle Eindruck sowie der Hippocampus beteiligt; aus letzerem werden Gedächtnisinhalte abgerufen und unser Denkapparat vergleicht die aktuelle Situation mit früheren ähnlichen Erlebnissen. Hier schaltet sich auch der Präfrontale Kortex zu, der aus dem Gesamtbild Schlüsse für den optimalen Umgang mit der Situation zieht.
Wie wichtig der Präfrontale Kortex für die Persönlichkeit und das Gefühlsleben eines Menschen ist, zeigt der Eisenstangenunfall des Arbeiters Phineas Gage aus dem Jahre 1848, der während des Unfalls bei Bewusstsein blieb, obwohl er dabei diesen Teil der Hirnrinde verlor. Gage überlebte den Unfall und die Wunden heilten, lediglich sein linkes Auge wurde durch den Unfall irreversibel zerstört. Vor allem blieben seine intellektuellen Fähigkeiten (inkl. Wahrnehmung, Gedächtnis, Intelligenz und das Sprachzentrum) sowie seine Motorik völlig intakt. Auffällig war lediglich eine Persönlichkeitsveränderung, durch die aus dem besonnenen, freundlichen und ausgeglichenen Arbeiter ein kindischer, impulsiver und unzuverlässiger Mensch wurde. Erst nach seinem Tode zwölf Jahre später konnte festgestellt werden, welche Hirnareale durch die Stange beschädigt worden waren und die Hirnforscher der damaligen zeit kamen zu der Erkenntnis, dass der Frontalkortex seine Informationen zurück an das limbische System senden, zu einer erneuten Beurteilung die gegebenenfalls eine Modifikation zur Folge hat.
Der Neurowissenschaftler António Damásio (Jahrgang 1944) unterscheidet folgendermaßen: Emotionen seien körperliche Reaktionen, die auf einen Reiz folgen und nach außen sichtbar sind, während Gefühle entständen, wenn das Gehirn die Reaktionen des Körpers analysiert und bewusst wahrnimmt. Damit ist der wissenschaftliche Blick auf die romantische Liebe ein durchaus nüchterner, der sich nicht selten auch ernüchternd auswirkt. Doch ob Liebe am Ende tatsächlich nur das Ergebnis eines geschickt gemixten Hormoncocktails ist, der zu intimer Vereinigung zweier Menschen führt oder vielleicht doch mehr, nämlich beflügende Inspirationekraft für unser Gehirn, das darf jede und jeder für sich selbst entscheiden.
Geschrieben und © 2022 von Rainer W. Sauer für CBQ Verwaltungstraining & BRAIN.EVENTS