„Ich will raus aus dieser Scheiße hier, doch ich weiß nicht, wie das gehen soll.
Raus aus diesem scheiß Revier, doch ich weiß nicht, wie das gehen soll.“ (Xavier Naidoo, „Alles kann besser werden“)
Ich möchte meinen Artikel mit einem Beispiel beginnen. Der Mannheimer Soul- / R&B-Sänger und Musikkomponist Xavier Naidoo war einst ein gefeierter Künstler, bis er anfing, mit sogenannten Reichsbürgern aufzutreten und öffentlich Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Beratungsresistent wiederholte er seine Grundansichten immer wieder, leugnete u.a. die COVID-19-Pandemie und vertrat wissenschaftsfeindliche Positionen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe durfte Naidoo (… dessen Debütalbum „Nicht von dieser Welt“ sich über eine Million Mal verkauft hatte …) sogar ungestraft als Antisemit bezeichnet werden, vom Fernsehen und bei Festivals wurde er ausgeladen, das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL schrieb, man wisse jetzt, „wo Naidoo stehe, nämlich sehr tief im Wutbürger-Morast“ – für den Musiker alles in allem das vorläufige Karriereende.
Viele Monate später meldete sich Xavier Naodoo mit einem Video-Statement öffentlich zu Wort und zurück und erkärte, durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sei sein (Zitat) „Weltbild auf den Kopf gestellt“ worden, weshalb er sich mit seinen eigenen Äußerungen in der Vergangenheit auseinandergesetzt hätte. „Ich habe erkannt, auf welchen Irrwegen ich mich teilweise befunden und dass ich in den letzten Jahren viele Fehler gemacht habe“, sagte er reumütig, doch fragte sich die Öffentlichkeit: war dies eine ehrlich gemeinte Botschaft direkt aus seinem Herzen oder eine Message mit Kalkül im Hinblick auf den Karriereknick?
Nun interagieren in unserem Denkapparat zwei Gehirnhälften bei der Informationsverarbeitung miteinander. Optische Reize und Informationen werden in jeweils unterschiedlichen Fließrichtungen verarbeitet, werden interpretiert. Der Neurowissenschaftler Pascal Fries spricht von „Bottom-up“ und „Top-down“-Effekt. Auf das Visuelle bezogen meint „Bottom-up“ sozusagen „Augen auf – Info rein“ und die Information fließt dann in Millisekundenschnelle gewissermaßen nach oben ins Gehirn von niedrigeren zu höheren Gehirnarealen. Doch wie wird sie als eine Top-Information gewichtet, die im Gehirn ein Umdenken zu bewirken imstande ist, sprich: als etwas, das wichtiger ist als andere Infos? Laut Fries hilft uns beim „Bottom-up“-Strom das „Top-down“-Prinzip. Heißt: Unser Gehirn benutzt bisherige Erfahrungen, um Ereignisse in den aktuellen Kontext einzuordnen und auf dieser Basis Vorhersagen zu treffen, die die neuen Infos beeinflusst und so unsere besondere Aufmerksamkeit wecken.
Die Erkenntnisse von Fries und seinem Team basieren auf Untersuchungen mit Rhesusmakaken und man benutzte dafür die Magnetenzephalographie. Hierbei wird mit Hilfe äußerer Sensoren die magnetische Aktivität des Gehirns aufgezeichnet, welche aus den elektrischen Strömen aktiver Nervenzellen resultiert und es konnte festgestellt werden, wie beim „Bottom-up“-Strom im Gehirn der Affen Informationen nach rhythmischen Aktivitätsschwingungen zuerst niederer Gehirngebiete weiter nach oben in die jeweils nächsthöheren Areale „wanderten“. Dabei entdeckten die Neurowissenschaftler auch, dass Frequenzbereiche für den „Top-down“-Reiz andere sind, wie für den des „Bottom-up“. Während beim „Bottom-up“ ein Gehrinstrom-Band im Gamma-Bereich um die 60 Hertz aktiv ist, wird beim „Top-down“-Strom ein Alpha-/Beta-Frequenzbereich zwischen 10 und 20 Hertz aktiv.
Nun sucht die Neurowissenschaft nicht nach der Lösung für die Frage, ob und ggf. wie ein Mensch mit den verschiedensten Situationen besser zurechtkommen kann, denn das gehört nicht zu ihren Aufgaben. Gleichwohl sind die Ergebnisse der Friesschen Untersuchungen von Makakengehirnen für die Beantwortung dieser Frage wichtig, denn, da Makaken ein dem Menschen sehr ähnlich aufgebautes Gehirn besitzen, lassen sich daran gewonnene Erkenntnisse in vielen Fällen auf den Menschen übertragen. Wenn man diese in den Kontext setzt mit neurophysiologischem Wissen zum menschlichen Gehirn und dessen Hierarchie, kann man Methoden entwickeln, die zu einer Art Feintuning im Denken – ich nenne dies abgekürzt FID – führen, die in Problemsituationen mit dem „Bottom-up“- und „Top-down“-Effekt umzugehen lernt.
Solche Ansätze gibt es bereits; eine davon stammt aus dem Coaching und nennt sich „CYM / Check-Your-Mind“. Hat ein Coachee Schwierigkeiten mit bestimmten Situationen, obwoht ihm im Grunde die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, sie gut zu bewältigen, stecken fast immer destruktive
Gedankennuster dahinter. Der Klient lernt durch CYM, seine ihn hemmenden, negativen Gedanken zu identifizieren und sie in den kontext mit förderlichen, positiven Gedanken zu setzen. Dies funktioniert auch bei Leistungsblockaden, wenn sich der Coachee etwas aufgrund von Stress, Erwartungsdruck oder inneren Hemmungen nicht zutraut oder Ängste verspürt. Hier ist FID gefragt, dass an besten angenommen wird, wenn eine vertrauensvolle Wechselbeziehung zwischen Coach und Klient besteht, die es dem Coachee erlaubt, Vertrauen zu seinem Coach zu entwickeln und die Bereitschaft, sich ihm zu öffnen.
Dann können die automatisierten negativen Gedanken aufgedeckt werden, damit der Klienten diese selbst entkräfteten kann. Dabei nutzt es wenig, sie einfach „nur“ durch positive ersetzen zu wollen, was viele Mental-Coaches in gut gefüllten Hallen dem Publikum suggerieren. Feintuning im Denken bewirkt, in der jeweiligen Problemsituation den inneren Dialog zu verändern, etwa innerhalb des „Bottom-up“- / „Top-down“-Prinzips. Durch den Aufbau neuer Gedankenmuster beim Filtern von Sinneseindrücken wird der Klient wieder handlungsfähig. Er lernt im Finetuning mit Hilfe seines Coaches, sich in der Problemsituation einen neutraleren Denkansatz zu seinen inneren Ressourcen zu öffnen, was beispielsweise bei Sportlern immens wichtig ist.
Er habe erkannt, auf welchen Irrwegen er sich befunden habe und welche Fehler er gemacht habe, sagte Naidoo in seinem Statement und man kann es ihm glauben, dass er es zutiefst bereut hat, seine Familie und seine Fans mit verstörenden Äußerungen irritiert und provoziert zu haben. Ebenso glaubhaft ist: „Ich habe mich Theorien, Sichtweisen und teilweise auch Gruppierungen geöffnet, von denen ich mich ohne Wenn und Aber distanziere und lossage“, so Naidoo und dafür wolle er sich entschuldigen, denn er habe sich auf der Suche nach Wahrheit verrannt.
Alles in Allem spricht nichts dagegen, davon auszugehen, Xavier Naidoo habe sein Gehirn – allein oder dank externer Hilfe – erfolgreich „feingetunt“.
Geschrieben von und © 2022 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining