„Was im Leben zählt, ist nicht, dass und wie wir gelebt haben. Sondern, wie wir das Leben von anderen verändert haben.“ (Nelson Mandela)
Das Wörtchen „woke“ schwirrt seit einiger Zeit durch unsere Gesellschaft und meint vor allem eine insbesondere Wachsamkeit für Diskriminierungen und Missstände – der Begriff kommt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt „aufgewacht“ bzw. „wachsam“. Manche sprechen vom „Woke-Wahnsinn“, wenn beispielsweise Texte von Astrid Lindgren umgeschrieben werden müssen, die Grünen-Spitzenkandidatin für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus nicht mehr davon erzählen darf, dass sie als als Mädchen gerne „Indianerhäuptling“ werden wollte oder das Örtchen Neger im Sauerland umbenannt werden soll.
Galt Lindgrens Protagonistin „Pippi Langstrumpf“ früher als Gallionsfigur weiblicher Emazipation, wurde sie später als „kolonialistisch“ gebrandmarkt, weil Langstrumpfs Vater einst nach der Vorstellung der Autorin „Ne***könig“ war – heute ist er „Südseekönig“. Brauchen auch Schillers Klassiker bald Warnhinweise oder wird in Hoffmanns „Struwwelpeter“ das „Mohrenkind“ zum „Südseekind“, weil die Lektüre dieser Bücher unsere Gehirne verderben? Was ist in Zeiten der Meinungsfreiheit mit Werken wie „Huckleberry Finn“ oder „Fritz the Cat“, in denen geflucht, gef***t, gekifft, gelogen oder unangemessen gesprochen wird? Und müssen bald auch Filme wie Eastwoods „Gran Torino“ oder Taratinos „Bobby Brown“ heutigen Woke-Erwartungen Tribut zollen? Oft zeigt sich ja, dass die Aufgeregtheit gar nicht einmal von den Betroffenen selbst kommt. So sagte beispielsweise Carmen Kwasny als Vorsitzende des „Native American Association of Germany e. V.“, dass sie die Aufregung bei den Berliner Grünen über die „Indianer“-Äußerung von Bettina Jarasch nicht ganz nachvollziehen könne. Kwasny vertritt amerikanische Ureinwohner in Deutschland und erklärte, diese würden im Verein den Begriff „Indianer“ selbst nutzen.
Anderswo wird aufgeregt darum gerungen, dass ein Stadtteil der nordrhein-westfälischen Kreisstadt Olpe mit Namen Neger umbenannt werden müsse, ebenso wäre dringend der Name der Erich-Kästner-Straße in München-Schwabing zu ändern, weil Kästner nicht ins Exil gegangen sei, sondern noch im Nationalsozialismus Bücher schrieb. Da fragen sich aber dann doch Menschen, ob Kästner nicht einer der Guten gewesen wäre, dessen Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt worden seien. Und sie fragen sich: was ist mit Trier, der Geburtsstadt von Karl Marx, in der es neben dem Karl-Marx-Haus und der Karl-Marx-Statue (die Trier direkt vom Chinesischen Volk geschenkt worden war) sogar eigene Karl-Marx-Ampelmännchen gibt? Hatte sich Marx nicht viel zu oft rassistisch und anti-semitisch geäußert?
Nun war zu lesen, dass die „Fridays for Future“-Bewegung eine Musikerin, die für F4F auftreten wollte abgelehnt habe, nur weil diese eine Dreadlock-Frisur tragen würde. Eine F4F-Sprecherin: „… wenn eine weiße Person also Dreadlocks trägt, dann handelt es sich um kulturelle Aneignung, da wir als weiße Menschen uns aufgrund unserer Privilegien nicht mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen müssen.“ – Sprich: Rastalocken haben auf dem Kopf von Ronja Maltzahn nichts zu suchen (siehe Instagram-Foto oben). Einmal davon abgesehen, dass die Vorstellung, kulture Besonderheiten von Völkern sollten rein und geschützt bleiben, eher in die rechte Ecke als in die von Klimekids verortet werden könnte, stellt sich mir die Frage: Wo hört die allgemeine Wachsamkeit für Diskriminierungen und Missstände auf?

Äußerungen zu Hautfarben, religiösen Traditionen, Frisuren können diskriminierend, verletzend und traumatisierend sein. Aber wer – um beim F4F-Beispiel zu bleiben – darf dann eigentlich Dreadlocks tragen? Die Azteken hatten welche, wenn man ihren in Stein gehauenen Bildnissen trauen darf, die Tataren, die Perser, afrikanische Völker. Möglicherweise gab es Filzlocken-Fans notgedrungen bereits bei den Neanderthalern. Geschieht die Aneignung einer Frisur in beleidigender Absicht, ist sie abzulehnen. Aber ist Frau Maltzahn zu verdammen, weil ihr die Frisur der jamaikanischen Rastafaris gefällt? Oder sollte man sogar die Rastafaris dafür kritisieren, dass sie sich keine Eigenerfindungs-Frisur gesucht hatten sondern afrikanische Traditionen fortsetzten? Müssen Albumcover von Bob Marley künftig derart verändert werden, dass er auf ihnen so aussieht wie kurz vor seinem Krebs-Tode: kahlköpfig? – Ganz sicher nicht.
Denn wenn „besorgte Kulturwächter“ sich flächendeckend durchsetzen würden, hätte dies Einflüsse beispielsweise in den Fasching hinein. Es gäbe dann zur Fastnacht keine „kulturelle Aneignung“ mehr, keine Motivwagen, die Politiker veralbern, keine militärischen Gardeuniformen mit Dreispitz. Und den brasilianischen Karneval nachahmen, weil man ihn bewundert: das ginge nun überhaupt nicht. Ja, brasillianische Ureinwohner am Amazonas haben bedauerlicherweise zahlreiche Sorgen und Nöte – es gibt dort Armut, Rassismus, Brandrodungen und vieles mehr. Aber dass eine Zwölfjährige in Mainz-Mombach als Samba-Tänzerin verkleidet mit ihrem Bruder im Araber-Kostüm zum Karnevalszug läuft, beide mit leuchtenden Augen, ist weder diskriminierend noch beleidigend gemeint.
Konsequent „wokisch“ weitergedacht müsste auch unsere urdeutsche Aneignung fremder kultureller Begriffe wie Party, Tattoo, Corned Beef, Zumba, Mokassins, Couch oder Jazz hinterfragt werden. Die Übernahme von Zahlen, Worten und Werten aus anderen Kulturen hat viele Fortschritte der Menschheit erst möglich gemacht und unsere Gesellschaft wäre kulturell wie materiell ärmer ohne sie. Der Gipfel der Übergriffigkeit im Dreadlock-Beispiel zeigte sich für mich jedoch in dem Ultimatum, das „Fridays for Future“ der Musikerin gestellt hatte. Und das ist nun keine Satire sondern bitterer „woke“-Ernst: „Solltest du dich bis Freitag entscheiden deine Dreadlocks abzuschneiden …“, hieß es da „… würden wir dich natürlich auf der Demo begrüßen und spielen lassen.“ – Solch eine Impertinenz machte sogar mich sprachlos.
Man muss sich das einmal vorstellen: Ausgerechnet Vertreter*innen derjenigen, die sonst zu Recht darauf hinweisen, dass Frauen selbst über ihren Körper und ihr Aussehen bestimmen sollten, forderten von einer Frau, dass diese gefälligst zum Friseur gehen muss, bevor man sich mit ihr befasst. Ich gestehe zu meiner Schande: Erst in diesem Moment fiel mir die Frisur der See-Retterin und Kapitänin Carola Rackete ein, die seit Jahren – auch bei F4F-Veranstaltungen – unbeanstandet mit Dreadlocks als Aktivistin spricht. Wer wie ich noch im letzten Jahrtausend aufgewachsen ist, kennt den Treppenwitz der Geschichte: Früher waren es Erzkonservative, die den „Langhaarigen“ abschätzig einen Friseurbesuch empfahlen. Heute dagegen …
PS: Der Vorschlag eines Friseurbesuchs sei „ein Eingriff in die Privatsphäre der Künstlerin gewesen, der so nicht hätte passieren dürfen“, stellte „Fridays for Future“ später klar.
Geschrieben von und © 2022 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining