Berlin 2005, „Elefantenrunde“ nach der Bundestagswahl: Mit Blick auf eine mögliche Kanzlerschaft Angela Merkels sagte der damalige Bundeskanzler und Wahlverlierer Gerhard Schröder: „Wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen. Diejenigen, die einen Wechsel im Amt des Bundeskanzlers erstreben wollten, sind grandios gescheitert. Es gibt ein Ergebnis, das eindeutig ist. Jedenfalls eindeutig, dass niemand außer mir in der Lage ist, eine stabile Regierung zu stellen.“ Und dann fügte er den inzwischen legendären Satz an: „Wie soll das denn sonst funktionieren?“
Dass er mit dieser Vorhersage nicht recht behalten könnte, war damals jedem außer ihm selbst klar, doch die kommende Kanzlerin war so perplex, dass sie dem polternden Schröder nichts entgegenzustellen hatte. Letztlich löste Angela Merkel ihn im Amt ab und führte anschließend eine große Koalition mit der SPD. Im Nachhinein räumte Schröder ein, damals übers Ziel hinausgeschossen zu sein und wählte für seine Aussagen den Begriff „suboptimal“. Das hätte ihm ein Zeichen sein können, dass es gelegentlich sinnvoll ist, in Ruhe über Veränderungen nachzudenken und sich dann erst oder vielleicht sogar neu zu positionieren.
Anderthalb Jahrzehnte später hatte sich der Alt-Kanzler zu einem engen Vertrauten von Wladimir Putin und Lobbyisten für russische Gaslieferungen entwickelt, saß in verschiedenen Aufsichtsräten, wurde hierfür mit mehr als 800.000 Euro jährlich entschädigt. Und „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing„: Nach der Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim beteuerte Schröder, Putin sei kein Kriegstreiber sondern ein „lupenreiner Demokrat“, dem zu Unrecht eine russische Bedrohung unterstellt werde. Doch spätestens nach dem auf Putins Geheiß erfolgten Überfall der Ukraine und der Invasion durch russische Streitkräfte wäre es für den 77-Jährigen an der Zeit gewesen, diese Freundschaft zu überdenken.
Doch auch das lief für ihn so „suboptimal“, dass sich sogar engste MitarbeiterInnen von ihm abwandten, allen voran sein langjähriger Büroleiter und Redenschreiber Albrecht Funk. Der hatte seinem Chef eine schnelle und klare Distanzierung von Putin sowie einen Rücktritt von allen Aufsichtsmandaten in russischen Unternehmen empfohlen haben. Ähnlich äußerten sich auch andere Berater des Ex-Kanzlers. Denn nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine hatte Schröder von „russischen Sicherheitsinteressen“ gesprochen und relativiert, wer Schuld am Einmarsch habe, denn „beide Seiten“ hätten „in den vergangenen Jahren viele Fehler“ gemacht. Die noch vor dem Angriff geäußerte Bitte nach Waffenlieferungen kritisierte er als „ukrainisches Säbelrasseln“.
Es wurde still und stiller um den Alt-Kanzler, dessen Stolz und Sturheit eine Selbstdemontage verhinderte. Der Aufforderung, sich eindeutig und unmissverständlich von dem von Vladimir Putin initiierten Krieg gegen die Ukraine zu distanzieren, nachdem bereits Tausende Menschen gestorben waren, sich Hunderttausende auf der Flucht befanden, kam Gerhard Schröder nicht nach. Er war der Meinung, es reiche aus, „Russland“ zu bitten, den Krieg und das damit verbundene Leid für die Menschen in der Ukraine zu beenden – nicht seinen persönlichen Freund. Auch war er nicht bereit, auf die Entlohnung aus den Chefposten beim Öl-Giganten Rosneft, bei Nord Stream oder Gazprom zu verzichten – allein sein Aufsichtsratsmandat bei einem deutschen Tunnelbohrmaschinen-Hersteller gab der Wirtschaftslobbyist auf.
Dabei hatte SPD-Chef Lars Klingbeil ihm erklärt, dass man „mit einem Aggressor, mit einem Kriegstreiber wie Putin“ keine Geschäfte mache. Auch handele man als Bundeskanzler a.D. nie komplett privat, so Klingbeil, schon gar nicht in einer Situation wie der jetzigen, in der sich jeden Tag aufs Neue zeigt, dass das nicht einfach ein Krieg ist. „Das ist die Ermordung von uns, dem ukrainischen Volk“, wie es der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ausdrückte. Ein Kriegsverbrechen für das es „definitiv ein Tribunal“ geben werde: „Ein internationales. Das ist ein Verstoß gegen alle Konventionen“, so der ukrainische Präsident. Ein früherer Bundeskanzler weiß so etwas natürlich, aber Gerhard Schröder schien ganz offensichtlich nicht dazu willens, zuzugeben, dass Wladimir Wladimirowitsch Putin ihn jahrelang geblendet und getäuscht hatte.
Auch abseits der Politik zieht Schröders Sturheit Kreise und sorgt für Unmut. So forderten der Deutsche Fußball Bund (DFB) sowie der Fußballclub Borussia Dortmund den Alt-Kanzler auf, harte Konsequenzen zu ziehen. „Ehrenmitglieder des DFB müssen sich uneingeschränkt zu den in der Satzung des DFB verankerten Grundwerten bekennen. Dazu zählen insbesondere die Achtung aller international anerkannten Menschenrechte und die Verpflichtung, allen menschenverachtenden Einstellungen und Verhaltensweisen entgegenzutreten. Eine solche Haltung erwarten wir auch von Gerhard Schröder“, so der DFB. Und der Verein erklärte: „Unserer Meinung nach gehört zu einer Situation, in der an jedem einzelnen Tag unschuldige Menschen durch Bomben sterben, zwingend (…) auch der klare Wille und die Überzeugung, auf Führungspositionen in russischen Staatskonzernen verzichten zu müssen.“
Es ist eine nahezu beispiellose Selbstdemontage, die man nur mit dem vergleichen kann, was sich Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl antat, der einst hochgeachtet seine Reputation (und den Ehrenvorsitz der CDU) verlor, weil auch er nicht einsehen wollte, dass es Zeiten gibt, in denen einem Stolz und Sturheit kein guten Ratgeber sind.
Geschrieben von und © 2022 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining