Rainer W. Sauer arbeitet im Rahmen seines Verwaltungstrainings und Coachings und seiner GehirnmanagementLive-Veranstaltungen immer wieder mit Beispielen aus Naturwissenschaft und Technik. Seit 1968 interessiert er sich für Astronomie und die Erforschung des Weltraums, 1974 baute er sich selbst ein elekronisches Musikinstrument: einen Synthesizer. In der Rubrik „NEBENBEI BEMERKT“ geht es nicht um Verwaltungstraining oder -coaching sondern Sauer lässt seine LeserInnen hier an Themen aus technischen oder naturwissenschaftlichen Bereichen teilhaben, die ihn selbst interessieren.
Der Belgier Georges Edouard Lemaître war katholischer Theologe, zugleich ein mathematisch herausragender Astrophysiker und gilt gemeinsam mit Edwin Hubble als Begründer der Urknalltheorie. Vor 95 Jahren enstand aus seinen Forschungen die moderne Kosmologie – der Moment, in dem die Menschheit das Universum so entdeckte, wie es wirklich ist.
Bis dahin hatten Astronomen einen kurzsichtigen und engstirnigen Blick auf die Realität. Wie es selbst den brillantesten Köpfen so oft passiert, konnten sie großartige Dinge sehen, aber sie konnten nicht verstehen, was sie sahen. Die entscheidenden Beweisstücke lagen direkt vor ihren Augen: überall am Himmel hatten Fotografen mit Hilfe der großen Teleskope des beginnenden 20. Jahrhunderts faszinierende Lichtwirbel dokumentiert. Spiralnebel wurden sie genannt, gespenstischen Windrädern im Weltraum gleich, und der berühmteste von ihnen, der Andromeda-Nebel (Messier 31 / NGC 224), war so markant, dass er in einer dunklen Nacht mit bloßem Auge sichtbar war. Die historische Großaufnahme oben wurde 1901 am 1897 eingeweihten Yerkes-Observatorium bei Chicago gemacht, dessen Hauptkuppel das mit einem 102-cm-Objektiv größte Linsenteleskop der Welt beherbergte.

Heute ist klar, dass es sich bei den Spiralnebeln um Galxien handelt, doch damals nannte man alle Nebel „eine Masse aus leuchtendem Gas“, deren wahre Identität unbekannt war. Waren viele Sterne zu erkennen, sprachen Wissenschaftler von Sternhaufen oder Welteninseln – auf jeden Fall waren das aus damaliger Sicht Teile der sog. Milchstraße. Überhaupt überwiegte unter Astroforschern Anfang des 20. Jahrhunderts die feste Überzeugung, dass es in den Tiefen des Weltalls keine weiteren Milchstraßen gab. Erst die Arbeiten von Georges Lemaître und Edwin Hubble, basierend auf Beobachtungen am Mount-Wilson-Observatorium in Kalifornien (seinerzeit der führende Außenposten für astronomische Forschung und Heimat eines gerade fertig gestellten 100-Zoll-Spiegel-Teleskops) brachten die entscheidende Wende.
Dass es gerade ein gläubiger Priester war, der kurz vor Hubble – beide forschten zum gleichen Thema – die richtigen Schlüsse zog, ist faszinierend und doch im Grunde logisch, denn Lemaître zog im Sinne der Katholischen Kirche die Existenz Gottes nie in Zweifel und war sich bewusst, dass das Weltall keineswegs die göttliche Sphäre, genannt der „Himmel“, war. Aus dieser Überzeugung heraus wollte er in Erfahrung bringen, was im Weltall vor sich ging.
Georges Lemaître baute auf den Forschungsergebnissen von Astro-Wissenschaftlern wie Vesto Slipher auf, der nachgewiesen hatte, dass sich viele der Spiralnebel mit enormer Geschwindigkeit bewegten, viel schneller als alle einzel erkennbaren Sterne. Slipher erkannte: je weiter ein Spiralnebel von der Erde entfernt ist, desto stärker ist im Mittel seine Rotverschiebung – ähnlich dem akustischen Dopplereffekt. Lemaître wiederum fand durch eine Vielzahl von eigenen Berechnungen heraus, dass sich die Welteninseln größtenteils von uns entfernten und dabei verfestigte sich bei ihm die Ansicht, dass es der Weltraum selbst ist, der sich ausdehnt und die Sternsysteme mitbewegt. Doch belegen konnte er dies vorerst nicht.

Durch Analyse der Rotverschiebung des Andromeda-Nebels kam der Belgier jedoch auf eine geschätzte Entfernung von 930.000 Lichtjahren, was zwar weniger als die Hälfte nach moderner Messung ist, aber für die damalige Zeit eine erschreckend große Entfernung war, die diese Welteninsel weit außerhalb der Grenzen der Milchstraße platzierte als ein Objekt, fernab der Sterne, die vor ihm zu sehen waren.
Sämtliche Analysen anderer Spiralnebel durch Lemaître bestätigten das auch bei diesen. Hubble kam in den USA zu ähnlichen Rückschlüssen, doch war es Georges Lemaître der (… 1920 mit der Arbeit „Näherung von Funktionen mehrerer reeller Variablen“ promoviert und dank seines starken mathematischen Hintergrunds bis 1924 an der Universität Cambridge forschend …) 1927 in den „Annales de la Société scientifique de Bruxelles“ einen Artikel veröffentlichte. Sein Titel: „Ein homogenes Universum mit konstanter Masse und zunehmendem Radius, das für die Radialgeschwindigkeit extragalaktischer Nebel verantwortlich ist“ – nun hatte er die Belege und auch der Name des Artikels beschreibt exakt seine Entdeckung.
Noch im gleichen Jahr veröffentlichte auch Edwin Hubble einen Artikel mit dem Titel „Measuring Stars“, der international bekannt wurde und ihm (da die „Annales de la Société scientifique de Bruxelles“ eine international wenig bekannte Fachzeitschrift war) Ansehen einbrachte. Hubble ging damals aber noch davon aus, dass Spiralnebel von „unbekannten Kräften, unbekannten Mechanismen angetrieben“ seien und erwähnte keine stetige Expansion des Universums ab einem Punkt Null. Zwei Jahre später jedoch definierte er anhand zusätzlicher Daten in dem Artikel „Eine Beziehung zwischen Entfernung und Radialgeschwindigkeit bei extragalaktischen Nebeln“ eine der fundamentalen Größen der Kosmologie: die sog. Hubble-Konstante. Sie beschreibt die messbare Rate der Expansion des Universums.

Es dauerte viele Jahrzehnte bis der belgische Forscher die ihm zustehende Anerkennung fand, aber heutzutage werden sowohl Edwin Hubble als auch Georges Lemaître als Entdecker des Urknall-Phänomens gewürdigt und dank ihnen konnten und können Wissenschaftler Sterne in anderen Galaxien untersuchen und so die Konstanz des Universums über Raum und Zeit hinaus feststellen.
Nach modernen Berechnungen ist die Andromeda-Galaxie 2,5 Mio. Lichtjahre entfernt, was gleichbedeutend damit ist, dass ihr Licht – also das Abbild, das wir heute von ihr sehen – vor 2,5 Mio. Jahren seinen Weg zur Erde begann, wir also sozusagen genau diese Anzahl an Jahren in die Vergangenheit blicken, wenn wir Andromeda ansehen. Und da die Sterne der Andromeda-Galaxie „unseren“ nahen Sternen der Milchstraße in gewisser Weise gleichen, fügten sich immer mehr Beweise für das Prinzip der räumlichen und zeitlichen Einheitlichkeit zusammen. Überall in Raum und Zeit scheinen Atome das gleiche Licht abzugeben und veränderliche Sterne scheinen, egal wo auch immer sie sich im expandierenden Universum befinden, genau den gleichen physikalischen Gesetzen zu folgen.
Das war das Geschenk, mit dem Georges Lemaître vor 95 Jahren den menschlichen Verstand veränderte.
Geschrieben von und © 2022 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining