„Eigentlich dürfte der Einrichtungsmarkt , den Sie hinter mit in Flammen sehen, gar nicht brennen.“ (Ernst Achilles, einer der weltweit führenden Brandschutzexperten, am 15.03.1984 in der TV-Sendung „Hessenschau“)
Ich habe mit einem Zitat des einstigen Feuerwehr-Papstes begonnen, das er anlässlich der Löscharbeiten am 14.03.1984 beim Großbrand in der Deutschlandzentrale von Ikea in Hofheim-Wallau sagte, durch den ein Sachschaden von ca. 50 Millionen D-Mark entstanden war – einer der größten Brände in der Geschichte Hessens. Alles sei perfekt gewesen, sagte er erschüttert in die TV-Kamera: Brandschutzkonzept vorhanden und umgesetzt, Sprinkleranlage installiert und funktionabel, automatische Brandmeldeanlagen, Feuerwehren mit 550 Kräften aus dem ganzen Rhein-Main-Gebiet vor Ort.
Das Ergebnis war ein Vollbrand, der erst nach 49 Stunden gebändigt war. Kurzum: der Experte rang um Fassung und konnte das, was er mit eigenen Augen sah, nicht begreifen. Auch später, als feststand, dass der ermittelte Brandstifter ein „frustrierter Mitarbeiter“ des Möbelhauses war, der an Matratzen gezündelt hatte. „Systemisches Versagen“ (oder wie ich es nenne: Der Titanic-Effekt) hieß es später. Die Feuerwehr sei angesichts der vorbildlichen Sicherheitskonzepte bei Ikea für einen solchen Brand einfach nicht genug vorbereitet gewesen, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“
Ein Beispiel aus neuerer Zeit zum „Titanic-Effekt“ gab es anlässlich der Senatswahl 2021 in Berlin. Eine Datenanalyse zeigte nach der Wahl ungewöhnlich viele ungültige Stimmen in knapp 100 Berliner Wahlbezirken, was auf systemische Probleme bei den Wahlen hindeutet. In der Tat: bis weit nach 20:00 Uhr konnten Wahlberechtigte noch ihre Stimme abgeben, weil während des Tages in mehreren Wahlkreisen fälschlicherweise Wahlzettel des Wahlkreises 1 ausgegeben worden waren oder in anderen Wahlbezirken Stimmzettel fehlten, die erst per Fotokopie nachgefertigt werden mussten – selbst bei der Auswertung der Briefwahl gab es nicht-passende Wahlzettel.
Die Landeswahlleitung habe mehrere Wochen vor der Wahl bereits Kenntnis davon gehabt, so Bezirkswahlleiter Bohm, dass Stimmzettel falsch sortiert bzw. ausgegeben worden waren. Das hätten Stichproben in den Schachteln ergeben, die entweder falsch beschriftet oder nicht richtig eingeordnet worden waren. In der Folge stellte die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis ihr Amt zur Verfügung, nachdem sie zuvor noch erklärt hatte, „theoretisch“ wären „alle Wahlzettel am richtigen Ort gewesen.“

Um es klar zu sagen: Vor systemischem Versagen kann eine öffentliche Verwaltung niemals sicher sein. Doch man kann Schritte unternehmen, um ihm vorbeugen und man kann trainieren, damit umzugehen, bevor es sich nach außen hin, also über die Verwaltung hinaus, auswirkt.
Erstens: Ein zu enger Fokus („Toter Winkel“) bewirkt, viele kritische Phänomene zu übersehen. Zweitens: eine zu große Selbstsicherheit führt dazu, Koordinationsversagen verschiedener Akteure auszuschließen. So ist es für manche achtsame Führungskraft vergleichsweise einfach, das Fremdgehen eines Mitarbeitenden als Optimierungsproblem eines Ehepartners zu erkennen und im Geiste den Zeitpfad der Untreue zu berechnen. Wer aber denkt, in seinem Team / seiner Abteilung / seiner Behörde laufe alles so optimal, dass er / sie sich hierüber keine Gedanken mehr zu machen brauche, vernachlässigt seine Achtsamkeit und hat es schwerer, systematischem Versagen vorzubeugen.
So unterstellen viele Führungskräfte gern, dass alle ihre Mitarbeitenden gleich sind: gleich talentiert, gleich fleißig, gleich, was die Arbeitsergebnisse betrifft. Das ist so, weil es ihre Modelle einfacher macht, wie eine Verwaltungsstruktur funktioniert oder umgebaut werden kann. Aber eine einfache Sichtweise ist oft nicht die optimale (siehe „Toter Winkel“). Um dem vorzubeugen reicht es aus, nur einen einzigen Beschäftigten genauer zu analysieren – ich nenne ihn den „repräsentativen Akteur“. Denn schließlich sind einzelne Menschen wie Verwaltungen oder auch Unternehmen in Wirklichkeit extrem heterogen – gerade diese Unterschiede sind es, die in der Verwaltungspraxis wichtige Prozesse vorantreiben.
Mithilfe des „repräsentativen Akteurs“ (das kann gerne der Lieblingsmitarbeiter sein oder die Mitarbeiterin, die immer am schnellsten mit allen Aufgaben fertig ist) lernt man, die anderen Beschäftigten besser einzuschätzen und das wiederum führt dazu, zu erkennen, dass das Gesamtsystem mehr sein kann, als die Summe seiner Teile. Der Kern meines Verwaltungstrainings dieser Fähigkeiten liegt darin, Verantwortungsträgern der Verwaltung nahezubringen, ihre Struktur/en beständig zu analysieren um alte Denkfehler zu vermeiden und zudem Vorbereitungen zu treffen bzw. Pläne bereits zu haben, was getan werden muss, wenn es zu ernsten Problemen kommt oder sich strukturelles Versagen andeutet.
Das Credo, also Glaubenbekenntnis, muss sein: Erwarte das Unerwartete und wisse, was zu tun ist, wenn etwas so ist, wie es nicht sein darf!
Geschrieben von und © 2021 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining