Wenn der Buchautor in seinem Werk „Merhaba, Flüchtling!“ darüber schreibt, dass bis Ende 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind – Afghanen, Iraker, Syrer – und dies für die meisten von ihnen eine fremde Gesellschaft ist, von der sie nur eines sicher wissen: Die Menschen sind reich. Bei ihnen ist es sicherer als in der alten Heimat. Aber dass sie nicht ahnen, wie anders unser Alltag und unsere Kultur sind, dann werden viele Leserinnen und Leser denken: Ist der Mann wirklich neutral in seiner Absicht oder will er werten? Noch dazu, wenn es sich bei ihm um Constantin Schreiber handelt, einen Fernsehjournalisten und „Tagesschau“-Sprecher.
Und doch wurde sein zweisprachig verfasstes Handbuch als vorbildlicher Dialog mit arabischen Flüchtlingen hochgelobt, seine n-tv-Sendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“ 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. In einem weiteren Werk, dem fiktiven Roman „Die Kandidatin“, schildert Schreiber ein Land am Abgrund, eine Gesellschaft zwischen Hoffnung und Hass, in der eine muslimische Frau mit ihrer ökologischen Partei auf dem Weg ins Kanzleramt ist. Das rief naturgemäß seine Kritiker auf den Plan und es hieß, er schwinge „den dicken Pinsel, plakativ und mit erkennbarer Schablone wird ein unschönes Deutschland gemalt“. Der Tagesspiegel resümierte gar, es sei „eine quasideutsche Übersetzung des Bestsellers ‚Die Unterwerfung‘ des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq“.
Über viele Jahrzehnte gab es für „Tagesschau“-SprecherInnen die Maxime, sich gegenüber dne Zuschauern und Zuschauerinnen möglichst unauffällig zu verhalten, um die neutrale Glaubwürdigkeit der Nachrichten nicht zu gefährden. So war nahezu das Einzige, was hinterfragt wurde, der Schnauzbart, mit dem Chefsprecher Karl-Heinz Köpcke 1974 nach seinem Urlaub das Publikum begrüßte. Jedenfalls bis Eva Herman, die noch 2003 nach einer Emnid-Umfrage „beliebteste Moderatorin Deutschlands“ war, als Buchautorin den Populismus für sich entdeckte und 2006 der seinerzeitige NDR-Programmdirektor Volker Herres die Trennung von ihr vorantrieb, weil er die Meinung vertrat, Hermans schriftstellerische Ambition vertrügen sich nicht mit ihrer Aufgabe bei Deutschlands zuschauerstärkster Nachrichtensendung.
Nun also Constantin Schreiber mit seiner Nebentätigkeit. Doch hier meint der NDR (der verantwortlich für ARD-aktuell-Formate wie „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ ist) – jedenfalls bislang – dessen schriftstellerische Tätigkeit sei (Zitat) „getrennt von seiner Tätigkeit im NDR zu betrachten“ und sie falle „unter die Kunstfreiheit“. Es sei „die Selbstverantwortung von Constantin Schreiber, dass ihm die Grenzziehung gelingt. Es ist sicherlich die Wahl der Genres, die ihm dabei helfen wird“. Sprich: Die Neutralität des Fernsehmitarbeiters Schreiber würde in Zweifel geraten, wenn dieser neben der „Tagesschau“ in anderen TV-Formaten als recherchierender Islamkritiker auftauchen würde. „Semper aliquid haeret“ eben: es bleibt immer etwas hängen im Zuschauerhirn.
Es scheint also Bedacht gewesen zu sein, mit der der Autor bei „Die Kandidatin“ die literarische Fiktion und zur eigenen Absicherung deren satirische Übersteigerung gewählt hat. Schreiber nun seine publizistischen Ambition zu untersagen, käme wohl einem Berufsverbot gleich, auch da sein Werk über die Protagonistin Sabah Hussein hoch oben in der „Spiegel“-Bestsellerliste steht. Ob das ausreicht, um Constantin Schreibers weitere schriftstellerische Ambitionen zu zähmen, muss sich zeigen. Fakt ist jedoch dass es manche Tagesschau-ZuschauerInnen wohl tatsächlich schwer haben, bei ihm zwischen dem Sprecher und dem Buchautoren zu unterscheiden.
Geschrieben von und © 2021 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining