Über den Umgang der irischen Werft Harland & Wolff mit dem Untergang der von ihr gebauten RMS Titanic hatte ich bereits HIER geschrieben, über die „Wahrheiten“, die Magazine der Boulevard-Presse verbreiten DORT. Nun möchte ich einmal über Folgen berichten, die eintreten können, wenn die Spanne zwischen Wahrheit und alternativen Fakten auseinander läuft und hierfür brauche ich noch nicht einmal das Beispiel Donald Trump zu bemühen. Ich berichte über eine junge Frau, die nahe Rosenheim aufgewachsen ist: Sophia Thiel, Jahrgang 1995.
2021 erschien ihr Buch „Come back stronger: Meine lange Suche nach mir selbst“ – eine Art Selbstrefektion. Zehn Jahrezuvor war sie ein „stämmiges“ Mädel, wie die Bayern sagen, eine „propere Person“. Dann schaffte sie es 60 Pfund abzunehmen, wurde Bodybuilderin sowie mit ihrer Geschichte und den Erzählungen über ihr Fitnessprogramm bis hin zur Traumfigur zum Vorbild für Hunderttausende Mädchen und junge Frauen. Und es kam so, wie es in unseren Zeiten einfach kommen musste: Frau Thiel wurde eine der erfolgreichsten Fitness-Influencerinnen des Landes, mit eigenem Social-Media-Kanal, einer Sophia-Thiel-Parfümreihe, -Modekollektion, mit Ratgebe-Videos und Schlankheitskochbüchern. Am Höhepunkt ihrer steil nach oben führenden Karriere wurde sie gar Coach beim Sat.1-Realityformat „Biggest Loser“ in dem vom Übergewicht gebeutelte Menschen vor TV-Publikum gemeinsam versuchen abzunehmen.
Die junge Frau war damit über einige Zeit ein echter Star, über den alle berichteten. Sie war stolz, auf den Titelseiten von „Women’s Health“, „Shape“, „Gala“ und so weiter abgebildet zu werden. Doch vom einen auf den anderen Tag verschwand Sophia Thiel aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Wie sie später erzählte, hatte sie sich wochenlang in einer Wohnung eingeschlossen, wog danach fast 100 Kilo, litt an der Krankheit Bulimia nervosa. Ihren Buch-Bestseller „Fit und stark mit Sophia. Erfolgreich trainieren ohne Geräte“ aus dem Jahre 2018 wollte kaum noch jemand kaufen – und er schien auch für sie selbst wie ein schlechtes Omen aus einer längst vergangenen Zeit zu wirken. – Doch der Reihe nach:
In „Come back stronger“ erzählt sie davon, dass man sie in der Schule wegen ihrer Pfunde gehänselt habe. Thiel beschreibt, wie sie damals ihrem Körper zu einem Feind erkor, der zu bekämpfen war. Erst aß sie fast nur noch Salate und Gemüse, trank Mengen von Kaffee und zuckerfreie Cola gegen ihren Hunger, träumte nachts vom Essen. Ein Junge, den sie aus der Schule bewunderte, fragte Sophia, ob sie, da sie ja nun abnehmen würde, mit ihm ins Fitnessstudio gehen wolle. Sie wollte und trainierte von da ab jeden Tag, denn es funktionierte: Bei einer Größe von 1,72 m wog Sophia Thiel bald 50 statt zuvor 80 Kilo.
Als es so gut funktionierte mit dem „Umbau“ ihres Körpers, richtete sie stolz über ihren Erfolg Profile auf Facebook, Instagram und YouTube ein, ihre Fans durften bei ihrem Training sozusagen „live“ mit dabei sein – innerhalb weniger Monate schaffte Sophia den Aufstieg zu einer echten Influencerin mit mehr als 300.000 Followern auf Facebook und 200.000 auf Instagram. Dadurch wurde sie interessant für die Fitness-Branche, denn schließlich denken rund 2/3 aller Mädchen und jungen Frauen in Deutschland, sie seien „zu dick“. Sophia Thiel wurde zu deren Sprachrohr gemacht.
2017 stand Sophia in Frankfurt am Main beim Videodreh während des Fibo World Fitness Day auf einer Freilichtbühne mit 4.000 Besuchern und praktizierte ein Weltrekord-Gruppenworkout. Es regnete leicht und als die Sonne durch die Wolken brach, war der Himmel in einen schimmernden Regenbogen eingehüllt: Märchenhaft! Aber das reichte ihr nicht: Thiel wollte weitere Steigerungen, sschrieb und dass sie zu dieser Zeit trotz des Hypes nie mit dem Erreichten zufrieden war. Zwar hatten Ihre Videos 2017/2018 bereits weit über 80 Mio. Aufrufe, was ihr Werbeverträge einbrachte über Fitness-Nahrungsmittel bis hin zu Mercedes, aber sie konnte einfach nicht stoppen, wollte immer mehr erreichen. Doch das Geschäftsmodell funktionierte nur solange Sophia funktionierte. Und die Influencerin fragte sich nie, was passieren würde, wenn die Transformation ihres Körpers einmal beendet ist und sich vielleicht wieder umkehrt. Doch genau das trat ein.
Sophia durfte essen, was immer sie wollte, denn das Trainingsprogramm gab ihr die Kraft, alle Kalorien wieder los zu werden. Aber sie schaffte es irgendwann nicht mehr, konsequent zu trainieren und aß trotzdem weiter. Ihre Fans sollten/durfen dies aber nicht mitbekommen. Zu bekannt war die Marke Sophia Thiel inzwischen, zu mächtig das Versprechen, an das Hunderttausende weibliche Follower glaubten: „Alles kann man schaffen, wenn man sich nur anstrengt.“ Der Fehler im System wurde notdürftig kaschiert: Hatte sie mal wieder etwas zugenommen, erschienen in Social-Media-Postings, alte Fotos von Sophia Thiel und sie wusste, dass dies ein Betrug ist in einer Welt, in der Stars wie sie nur deshalb „geliked“ werden, weil Follower sie durch ihren „echten“ Alltag begleiten dürfen.
Thiel litt an der Essstörung Bulimia nervosa, die sich durch einen Wechsel von Essanfällen und versuchter Gewichtsreduktion ausdrückt. Aber sie weigerte sich, diesen Fakt sich gegenüber anzuerkennen. Auf der Fibo 2018 trug Sophia Thiel Langarmshirt und Jäckchen – angeblich fror sie – und der kleine Betrug an den Fans funktionierte (zumindest vorerst) weiter. Anfang 2019 erschien dann sogar die Erstausgabe der Zeitschrift „Sophia Thiel Magazin“, auf deren Cover die damals 23-Jährige dank Photoshop Nachbearbeitung völlig anders aussah, wie in Wirklichkeit.
Gab es Foto-Shootings, beispielsweise auf den Kanarischen Inseln, so entschied Thiel ohne nähere Begründung, dass die Fotos „nicht zu gebrauchen“ seien. Kein Problem für Management und Verlag. Doch im Mai 2019 musste sie zu einer Preisverleihung persönlich erschienen. Auf dem roten Teppich war Sophia in ein schwarzes Wickelkleid gehüllt, aber auch das konnte die neuen Pfunde nicht verschleiern. Es gab Bilder, die viral durchs Netz gingen, und die Kommentare hierauf waren hämisch und böse: „Bist wohl schwanger?“ / „Hast schon lange mehr keinen Sport getrieben.“ / „Kannst Du Deinen Account umbenennen in Sophia-JoJo?“ – Es war für Thiel der letzte öffentliche Auftritt für eine lange Zeit. Ihre Accounts wurden auf Eis gelegt, sie blieb verschwunden.
Wie sie im „Comeback“-Buch erzählt, war sie nach L. A. geflogen, hatte sich dort ein Apartment gemietet, saß oder lag alleine auf dem Sofa, schaute TV und hörte traurige Musik. Und sie bestellte sich Essen ohwohl sie keinen Hunger verspürte, gab so die Kontrolle über ihren Körper komplett ab und das Versprechen, das sie Hunderttausenden gegeben hatte, war endgültig gebrochen. „Es fühlte sich an, wie ein schlecht transplantiertes Organ, das der Körper abstoßen will, also ich mich, als ob man jetzt gar kein echter Teil der Gesellschaft mehr ist“, sagte sie in ihrer Buch-Selbstreflektion.
Thiel lies sich von einem Arzt untersuchen, der ihr vielleicht sagen würde, wann sie theoretisch wieder in Topform sein könnte. Doch der Mediziner war zuallererst Arzt und führte mit ihr einen Persönlichkeitstest durch und berichtete Sophia, was ihr seiner Ansicht nach am meisten fehlen würde: eine glückliche Beziehung. Die Zeit danach blieb schwer, aber sie brachte ihr auch Erfolge. Nun konnte sie wieder essen, ohne eine Schlechtes-Gewissen-Panikattacke zu bekommen. Und sie trennte sich von ihrem damaligen Freund und Manager, der in Deutschland zurück geblieben war, zahlte ihn aus. Außerdem gestattete sie sich nun Gedanken daran, auf Social Media zurückzukommem – allerdings nur mit einen anderen Job.
Nach beinahe 24 Monaten Abstinenz entschloss sich Sophia Thiel, wieder an die Öffentlichkeit zu gehen und meldete sich mit einer Videobotschaft auf YouTube zurück. Das Comeback vollzog sie dann nach einer Art Stufenplan und dies mit ein Team mit vier Mitarbeiterinnen, für die Fotos und Videos, die Strategie und das Einhalten Ihrer Selbstkontrolle, schreibt sie im 2021er Buch. Denn sie nehme ihre Fans und Follower nun wieder mit bei ihrer neuesten Transformation – jetzt aber zur wahren Sophia Thiel, der ehrlichen Fitness-Influencerin, wie sie es ausdrückt.
Sophia Thiel wiegt etwa 80 oder 85 Kilo, berichtet sie, genau wisse sie es auch nicht, man müsse sich ja nicht ständig auf die Waage stellen. Und sie lebt gemeinsam mit ihrem neuen Freund in Bayern. Während ihres Abtauchens sank die Zahl ihrer 1,3 Mio. Follower bei Instagram, doch die „neue“ Sophia hat inzwischen wieder weit über 1 Mio. Fans und das YouTube-Video, in dem sie über ihre Essstörung berichtet, wurde mittlerweile mehr als 3 Mio. Mal aufgerufen.
Sophia Thiel hat die Kontrolle über ihrer Körper zurück – so die Botschaft. Aber wir haben ja gelernt: Die Geschichte muss nicht stimmen, sie muss sich nur gut anhören.
Geschrieben von und © 2021 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining