SCHALTER IM KOPF (14) | ASS: Wenn Schalter im Gehirn blockiert sind (3a/3)

Vorbemerkung: Zuerst einmal vielen Dank für die Rückmeldungen zu Teil 1 & Teil 2 meines Artikels. Auf eine möchte ich hier näher eingehen. Sie kam von der niederrheinischen Malerin und Fotografin Silvia Springorum und die stellte vier wichtige Fragen:

»Wie können Gesellschaft und Bildungssysteme besser auf individuellen Stärken und Interessen von ASS Betroffenen eingehen, anstatt die Betroffenen ausschließlich durch die Linse der Herausforderungen zu betrachten? /// Welche Anpassungen in der alltäglichen Umgebung würden Sie als notwendig erachten, um sensorischen Überlastungen zu minimieren und soziale Integration zu erleichtern? /// Wie kann die Balance zwischen dem Bedürfnis nach Autonomie und der Notwendigkeit von Unterstützung in verschiedenen Lebensphasen aussehen? /// Wie können Menschen im Autismus-Spektrum aktiv in die Forschung einbezogen werden, um sicherzustellen, dass die entwickelten Strategien und Therapien wirklich relevant und hilfreich sind?«

Ihr gehe es um ein tieferes Verständnis und bessere Bedingungen für Menschen im Autismus-Spektrum, wie sie mir schrieb.


Wir leben in einer Welt, die sich auf die neurologische Mehrheit eingestellt und ausgerichtet hat, weshalb sich junge wie ältere Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen vielen Hürden und Barrieren, Unverständnis und Vorurteilen ausgesetzt sehen. Es zählen sog. Soziale Normen, also gesellschaftliche Handlungs- und Verhaltensanweisungen, die das „normale“ Sozialverhalten betreffen. Doch eine „Welt der Normalen“ als Gegensatz zu einer der neurodiversen Menschen anzunehmen, ist der falsche Denkansatz.

Sogenannte neurologische Entwicklungsstörungen, zu denen neben den ASS unter anderem auch ADHS oder Entwicklungsdyslexie (früher Lese-Rechtschreibschwäche genannt) zählen, werden heutzutage zunehmend als eine Variante der menschlichen Entwicklung betrachtet. Unter dem Label „Anders zu sein ist eine Bereicherung“ versuche ich schon seit Langem, Verständnis hierfür zu wecken, ich vertrete sogar die Ansicht „Sind wir nicht alle ein wenig autistisch?“ und meine damit, dass jeder Mensch „Eigenheiten“ hat, deshalb aber kein Außenseiter sein muss, sondern Teil unserer Gesellschaft ist.

Ein Bekannter von mir ist hochintelligent, sein Sohn war sogar mal Matheweltmeister gewesen, aber er singt, sofern er sich unbeobachtet fühlt, laut vor sich hin. Andere Menschen haben einen „Fimmel“, eine „Marotte“ oder einen „Spleen“, womit jeweils eine „leichte Verrücktheit“ gemeint sein soll. Und es gibt sog. Exzentriker, also Mitmenschen, die in ihrem Verhalten deutlich von der sozialen Norm abweichen und trotzdem Teil unserer Gesellschaft sind und eben nicht „abartig“, wie manche Menschen behaupten, ohne sich der Wortbedeutung bewusst zu sein. Im Gegenteil: Nahezu jeder von uns hat gewisse Defizite, die bestimmte Handlungsweisen verhindern, zwar nicht so ausgeprägt wie bei einer Autismus-Spektrum-Störung, aber immerhin von der Norm abweichen. Ich beispielsweise kann mir manche Gesichter nicht wirklich merken und das wird von meiner Umwelt gelegentlich als arrogantes Verhalten interpretiert, weil ich Bekannte nicht grüße. Aber das kann ich nicht, weil ich sie nicht erkenne. Genau wie bei Entwicklungsdyslexie oder der Farbenblindheit und auch nicht ganz so weit entfernt von einigen Varianten des Asperger-Autismus.

Nun bin ich weder Wissenschaftler noch Experte, aber im Rahmen meiner Arbeit mache ich jeweils nur ein halbes Jahr lang gehirn-geniale Veranstaltungen und Seminare* und befasse mich die andere Hälfte mit Forschungsergebnissen aus der Neurowissenschaft bzw. führe Gespräche mit Expert:innen auf diesem Gebiet. Und hier kann man zunehmend den Eindruck gewinnen, dass die geistige Entwicklung eines Individuums gelegentlich sozusagen „auf des Messers Schneide“ stattfindet, in der Weise, dass im einen Fall eine Eigenheit oder auch Sörung gerade noch akzeptiert (und der Mensch als „normal“ angesehen) wird und man ihm im anderen Fall bei ihm schon mal eine tiefgreifende Störung zuordnet. – Wie könnten nun im Sinne von Frau Springorum Gesellschaft und Bildungssysteme besser auf individuelle Stärken und Interessen von ASS Betroffenen eingehen?

Leider gibt es im deutschsprachigen Raum – neben den einschlägigen Vereinen und Institutionen** – nur wenige zur Verfügung stehende externe Informations- bzw. Seminarangebote, die sich mehrheitlich an ASS-Kinder und -Jugendliche bzw. deren Eltern und Großeltern, die regelmäßig mit ihnen umgehen, richten. Und bei erwachsenen Autist:innen sieht es noch schlechter aus, müssen diese doch viel zu oft auf sich allein gestellt versuchen, zu sich selbst zu finden und in der „Normalwelt“ zurecht zu kommen. Doch sich als Individuum selbst besser kennenzulernen ist ein lebenslanger Prozess, den jeder Mensch durchläuft, egal für wie „normal“ er sich im Vergleich zu seinen Mitmenschen hält.

Daher ist es gerade bei einem ASS-Kind wichtig, ruhig und sachlich und in aufbauender Form dessen besondere Stellung in der Welt verständlich zu machen. Sollte man / frau sich hierbei unsicher sein und vielleicht zu bestimmten Fragestellungen keine Antwort wissen, dann ist es zielführend, gemeinsam mit dem Kind oder Jugendlichen nach den entsprechenden Informationen zu suchen. Neben dem Internet gibt es einige gute Literatur und auch die eine oder andere offene Veranstaltung zum Thema. Im Gespräch sollte es jedoch stets um Stärken und Schwächen der kleinen Menschen gehen und – ohne jeden Zweifel – ist „ihr“ Autismus für die Betroffenen eine Stärke, mit der sinnvoll umgegangen werden will.

Im Übrigen ist der Gesprächsprozess mit jungen wir älteren Autist:innen kein Sprint sondern ein Marathonlauf, bei dem man wissen muss, dass sich je weiter ein Mensch heranwächst, die einzelnen Parameter des Themas verändern. Ebenso ist die Selbsterkenntnis ein Weg, der bei Menschen mit ASS dadurch geebnet werden kann, indem man die positiven Aspekte der Autismus-Spektrum-Störung betont. Denn wenn es später darum geht, für sich selbst einzustehen, bildet das entsprechende Wissen über die eigene besondere Veranlagung eine wichtige Grundlage für das Selbstbewusstsein. Und nur wenn man als Betroffener seine Stärken und Schwächen kennt, kann man Routinen entwickeln, um sich selbst zu helfen, obwohl solche Aufgaben im Grunde von den Bildungssystemen und der Gesellschaft übernommen werden müssten.

Für Menschen im autistischen Spektrum kann es im Übrigen durchaus hilfreich sein, wenn einige Personen aus dem persönlichen Umfeld darüber Bescheid wissen. Damit verbunden ist auch die uneigennützige Absicht, das gesellschaftliche Miteinander ganz allgemein zu verbessern. Oft erfülle dies die AutistInnen auch ein wenig mit Stolz und Genugtuung, hat man mir versichert.

[Die Fortsetzung dieser Artikels findet man HIER!]

* = April bis Mitte Juli und September bis Mitte November

** = u. a. der Bundesverband autismus Deutschland e.V. (als Selbsthilfeverband der Interessen von Menschen mit Autismus und ihrer Angehörigen), der NeuroDivers e.V. und die Herbert Feuchte Stiftungsverbund gemeinnützige GmbH

Geschrieben von Rainer W. Sauer und © 2023 für BRAIN.EVENTS / CBQ & CBQ blue

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