SCHALTER IM KOPF? (12) | ASS: Wenn Schalter im Gehirn blockiert sind (1/3)

„Autismus ist keine Charaktereigenschaft, sondern etwas, das (…) einem oft die Chancen in der ‚Normalwelt‘ und die eigene Lebensqualität sehr einschränkt, egal, wie gut oder schlecht man seine Schwächen durch ‚Spezialfähigkeiten‘ kompensiert.“ (Susanne Schäfer)

Um Autismus ranken sich viele Klischees und Missverständnisse, die bereits damit beginnen, dss es nicht „die eine“ immer gleiche Autismus-Erkrankung gibt, sondern es ist ein Spektrum an Facetten. Der Begriff Autismus wurde 1911 durch den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt, der im Rahmen seiner Forschungen zur Schizophrenie komplexe und vielgestaltige Störungen der Gehirnentwicklung des Menschen diagnostizierte, die inzwischen im deutschsprachigen Raum allgemein als ASS – Autismus-Spektrum-Störungen beschrieben werden, da es im derzeit gültigen Klassifikationssystem ICD-10-GM sowohl den Frühkindlichen Autismus gibt, als auch das sog. Asperger-Syndrom, den Atypischen Autismus sowie sowie das Rett-Syndrom und die desintegrative Störung im Kindesalter.

Allen Erkrankungen gemeinsam ist, dass es sich um unheilbare Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung im Gehirn handelt, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken. „Unheilbar“: eine im ersten Moment niederschmetternde Diagnose, doch gibt es vielschichtige Unterstützungsmöglichkeiten für AutistInnen der einzelnen Störungsfacetten. So kann man schon im Kindesalter – in Deutschland beispielsweise unterstützt durch den Herbert Feuchte Stiftungsverbund – das autistische Kind durch eine spezielle Einzelbetreuung bereits in der Kita fördern und die Erfolge hierbei sind ebenso unverkennbar wie erstaunlich.

Studien der 2010er Jahre gehen davon aus, dass rund 1 Prozent der Weltbevölkerung im Autismus-Spektrum liegen könnten. Die Unterscheidung der drei einzelnen ASS nach dem ICD-10-GM fällt in der Praxis jedoch zunehmend schwerer, da aktuell immer öfter leichtere Formen der einzelnen Störungsbilder diagnostiziert werden. Gleichwohl ist die Verwendung des ASS-Oberbegriffs sinnvoll, da er klarstellt, dass es sich bei „dem“ Autismus nicht um eine, ganz bestimmte, neurologische Störung handelt sondern ein Spektrum autistischer Störungen umfasst.

Außerdem ist das „Anderssein“ vor allem durch eine veränderte Wahrnehmung auf beiden Seiten gekennzeichnet. AutistInnen kennen naturgemäß ihre Perspektive der Welt an besten und wundern sich darüber, wie andere Menschen sie sehen, kommen sich oft vor wie ein Geisterfahrer, dem Hunderte Fahrzeuge entgegenkommen. Aber hat die Mehrheit immer „recht“ oder gar „das Recht“ zu entscheiden, was „normal“ oder „richtig“ ist? Nicht ohne Grund habe ich meinen ASS-Seminaren den Leitsatz „Anders zu sein ist eine Bereicherung“ vorangestellt.

Da ASS nicht geheilt werden können, scheint es so, als seien wichtige Schalter im Gehirn derart blockiert, dass es unmöglich erscheint, sie zu lösen. Das ist im Grunde auch so, denn Autismus kann man nicht wegtherapieren. Aber durch individuelle Therapien ist es durchaus möglich, die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten zu verbessern oder die soziale Interaktion und Kommunikation gezielt zu trainieren und mit UnterstützerInnen (beispielsweise während der Schulzeit) können Brücken im Unterricht, hin zum Lernziel, gebaut werden.

Lesen Sie HIER TEil 2 des Artikels!

Geschrieben von Rainer W. Sauer und © 2023 für BRAIN.EVENTS / CBQ & CBQ blue

Ein Kommentar zu “SCHALTER IM KOPF? (12) | ASS: Wenn Schalter im Gehirn blockiert sind (1/3)

  1. Sehr geehrter Herr Sauer,
    vielen Dank für Ihren aufschlussreichen Artikel zum Thema Autismus. Ich finde ich es wichtig, dass solche Themen öffentlich diskutiert werden, um Bewusstsein und Verständnis zu schaffen. Hier sind meine Gedanken und Fragen:

    a) Wie können Gesellschaft und Bildungssysteme besser auf individuellen Stärken und Interessen von ASS Betroffenen eingehen, anstatt die Betroffenen ausschließlich durch die Linse der Herausforderungen zu betrachten?

    b) Welche Anpassungen in der alltäglichen Umgebung würden Sie als notwendig erachten, um sensorischen Überlastungen zu minimieren und soziale Integration zu erleichtern?

    c) Wie kann die Balance zwischen dem Bedürfnis nach Autonomie und der Notwendigkeit von Unterstützung in verschiedenen Lebensphasen aussehen?

    d) Wie können Menschen im Autismus-Spektrum aktiv in die Forschung einbezogen werden, um sicherzustellen, dass die entwickelten Strategien und Therapien wirklich relevant und hilfreich sind?

    Ich freue mich darauf, weitere Diskussionen und Entwicklungen zu sehen, die zu einem tieferen Verständnis und besseren Bedingungen für Menschen im Autismus-Spektrum führen.

    Herzliche Grüße:
    Silvia Springorum

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