Zum ersten mal traf ich auf Christian Lindner bei einem Empfang der Jenaer Freien Demokraten – das war 2014. Wir unterhielten uns kurz über die Streitschrift „Noch eine Chance für die Liberalen oder die Zukunft der Freiheit“ von Karl-Hermann Flach, 1971 erschienen und trotzdem auch heute noch aktuell. Seit unserem damaligen Gespräch verfolge ich mit Interesse, was Lindner unternimmt, um seine Partei und deren Konzepte neu zu erfinden.
Nach der Schmach der außerparlamentarischen Opposition ab Herbst 2013 – die FDP, zuvor noch Mitglied der Bundesregierung, hatte mit 4,8 % den Verbleib im Bundestag verfehlt – wurde der ehemalige Generalsekretär der Bundesliberalen neuer Vorsitzender seiner Partei und leitete einen Imagewechsel der Freien Demokraten ein, u.a. mit der Ergänzung der blau-gelben Grundfarbe durch Magenta und hippen Wahlkampf-Slogans wie „Digital first, Bedenken second“ oder „Update“.
Sein Plan war parteiintern umstritten und teuer (u.a. wurde die Berliner Werbeagentur Heimat verpflichtet) ging aber auf: die noch bis Mitte der 2010er Jahre verstaubt wirkenden Liberalen, deren Mitglieder gerne in Jagdsalons und trautem Ambiente zusammengerufen wurden, tagten nun bei Musik von Coldplay in Lofts, ehemaligen Fabrikhallen oder der Lounge von Sportarenen. Zitat Lindner aus seinem Buch „Schattenjahre: Die Rückkehr des politischen Liberalismus“: „Ich wollte die liberale Partei zurück, die mich einst begeistert hatte: modern im Denken, verlässlich im Handeln, differenziert im Urteil, unbequem, aber respektiert.“
Doch obwohl die Liberalen nach ihrem Update anschließend in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz in Landesregierungen mitwirken und -gestalten konnten, mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Katja Suding, Alexander Graf Lambsdorf oder Michael Theurer teils charismatische Politiker in ihren Reihen hatten, war die FDP für viele Deutsche Wählerinnen und Wähler oft genug eine One-Man-Show von Christian Lindner, was viel mit seinem bisherigen Selbstverständnis als Aushängeschild der Liberalen zu tun hat. Doch nun, als Chef des Finanzministeriums (als zweitwichtigstes Haus der Scholz-Regierung) und Dienstherr von 63.000 Mitarbeitende, als einer, der den Bundeshaushalt aufstellt, ausgabefreudigen Kollegen die Gelder streicht und im Ausland einer der mächtigsten Vertreter Deutschlands ist, muss Lindner sich überlegen, was für eine Art Repräsentant er von nun ab sein will.
Denn wohin die Europäische Union in den nächsten Jahren steuert, bestimmt ganz wesentlich der deutsche Finanzminister. Dies kann für Christian Lindner schnell zu einem Dilemma werden, wenn er zukünftig Politik machen will. Kann er den schmalen Grat gehen, zwischen seinem FDP-Klientel, der mit Mehrheit regierenden Ampel, dem Rest der Wähler in Deutschland? Kann es einen Mittelweg geben zwischen nationalen Interessen (niedrigere Steuern, weniger Staat, strikte Haushaltspolitik) und den teuren Ansprüchen der EU-Mitglieder? Kann Christian hier wirklich „mehr Fortschritt wagen“, wie es der Anspruch der Ampel-Regierung ist?
Zum einen soll unser Land flottgemacht UND zugleich die Wirtschaft klimagerecht umgebaut werden. Jeder weiß, dass ein solcher Aufbruch vor allem ein finanzieller Kraftakt ist für die Staatskasse werden wird – dies obwohl Lindner und seine Liberalen Subventionen vom Grunde her ablehnen. Andererseits fehlt es hinten und vorne an Geld und die Corona-Pandemie hat die Neuverschuldung des Staates gigantisiert. Welche Rolle Christian Lindner im Amt geben wird, ist derzeit offen. Doch „Selbstinszenierung first, Bedenken second“ reicht für den Job des Finanzministers nicht aus. Allerdings sollte man niemals unterschätzen, dass dieser Mann sich wie ein Popstar stets neu erfindet. Wer ihn und seine Statements der letzten Wochen aufmerksam verfolgt hat, der konnte einen neuen Lindner entdecken, der SPD-Granden zitierte und viel Lob aussprach.
Was schon jetzt klar ist: beratungsresistent, wie zuletzt der liberale Kurz-Ministerpräsident Thomas L. Kemmerich, ist Lindner nie gewesen. Ganz im Gegenteil. Eine der großen Stärken des neuen Bundesfinanzministers ist es, auf die Erfahrung und die Expertisen von Beratern – seien es Politikprofis oder Werbefachleute – zu setzen und auf diese zu vertrauen. Ob sein Ministerium dafür am Ende tatsächlich mehr Geld für Beratung und Gutachten ausgeben wird, als sein Vorgänger im Amt, bleibt noch abzuwarten. Dass Lindner aber seine Worte mit Bedacht und vorsichtig wählt, dass er Konflikte derzeit eher zu dämpfen versucht, als sie anzuheizen, ist bereits jetzt erkennbar.
Christian Lindner wird sich also häuten und neu erfinden: weg vom Effekthascher, hin zum seriösen Politiker. Was zum Vertrauen auf Beratung hinzu kommt ist sein Wille zum Erfolg. So krachend die Niederlage der Partei war, bevor er Parteichef wurde, so faszinierend ist der Neuaufbau, der ihr unter seiner Regie in den letzten Jahren gelang. Nun also steht Lindners schonungsloses Update fürs Finanzministerium bevor. Das wird spannend.
Geschrieben von und © 2021 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining