„Das Vertrackte am Klarmachen des eigenen Standpunktes ist, dass man dadurch zu einem nicht zu verfehlenden Ziel wird.“ (Baruch de Spinoza)
(…) Die Epistemologie oder Erkenntnistheorie geht als ein Hauptgebiet der Philosophie Fragen nach den Voraussetzungen für Erkenntnis und dem Zustandekommen von Wissen nach. Dabei spielt es auch eine große Rolle, zu erkennen, was Gewissheit ist und sich gut auf Rechtfertigungen vorzubereiten, wenn Zweifel, welcher Art auch immer, an objektiven Überzeugungen aufkommen. Ich hatte ja bereits in einem ganz anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es immer von Vorteil ist, Dinge strategisch zu planen und beim internen Gruppen-Brainstorming auch einmal die Position des Gegenübers / Gegners zu vertreten.
Dies baut auf dem Prinzip des „Devil’s Advocate“ (DA) auf und ist eine Technik, die dazu genutzt wird, um der Informationssuche im Rahmen von (durch den eigenen Standpunkt) voreingenommenen Einschätzungsprozessen entgegenzuwirken. Hierbei wird einem zufällig oder gezielt ausgewähltes Mitglied der Gruppe die Rolle auferlegt, Vorschläge der Gruppe ganz offen zu kritisieren. Haben sich beispielsweise alle über eine bestimmte Lösung verständigt oder auf eine Entscheidung geeinigt, vertritt der DA provokativ Gegenargumente und versucht so, Schwächen zu identifizieren, die der Entscheidung oder Lösung anhaften. Der Gruppe bleibt nichts anders übrig, als auf die Kritik zu reagieren und zu prüfen, ob die vom DA vorgetragenen Argumente stichhaltig sind oder entkräftet werden können.
Ziel des Vorgehens ist es, die ursprünglich gewählte Lösung / Entscheidung entweder beizubehalten oder sie aufzugeben, denn Entscheidungen zu treffen kann ein Mensch nur, wenn er weiß, worauf bei einer Realisierung zu achten ist. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Bündnis’90/Die Grünen wählten 2021 Annalena Baerbock zu ihrer Kanzlerkandidatin und wirkten trotzdem schlecht vorbereitet, als sich politische Gegener an ihr abarbeiteten. Und als man merkte, dass eigene Schlampereien mit ein Grund für die Kritik waren, verfielen sie in Panik, ritten Attacken an der falschen Stelle, entblößten eine „Rhetorik der bebenden Unterlippe“, wie es beispielsweise DIE ZEIT nannte – das war kontraproduktiv für den so greifbar nahen Erfolg. Baerbock selbst sei in dieser Zeit müde, mürbe und frustriert gewesen, weil sie sich ungerecht behandelt fühlte. Gleichwohl: Die Wucht der Angriffe hatte auch sie getroffen und hierauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Vielleicht auch deshalb, weil in ihrem politischen Leben bis zu dieser mächtigen Wucht nahezu alles erstaunlich glattgegangen war. Zu glatt, um sich auf die Härten einer Kanzlerkandidatur in allen Aspekten vorzubereiten?
Was passiert war: Obwohl drei Monate vor der Bundestagswahl Unionskandidat Armin Laschet vor allem durch Nichtstun auffiel und die SPD sich in den Umfragen bei 15 % festgefahren hatte (ein Zustand, der sich später radikal ändern sollte), sorgte die grüne Partei, die nach eigener Aussage für Veränderung stehen wollte, durch eine Vielzahl an strategischen Fehlern für Verdruss selbst bei den eigenen WählerInnen. Von unverzeihlichen handwerlichen Fehlern beim Lebenslauf einmal abgesehen, stellt sich vielen Sympathisanten beispielsweise die Frage, weshalb Frau Baerbock als Politikerin mit bislang wenig schriftstellerischen Ambitionen unbedingt ein Buch schreiben musste, für das sie viele Passagen ungefragt aus den Werrken anderer zusammenstellte? Natürlich ist so etwas kein Plagiat im klassischen Sinne, aber gleichwohl weder notwendig noch zielführend. Die Verpflichtung eines Co-Autors (m/w/d), wie es schon viele andere PolitikerInnen vorgemacht hatten, scheint als Option von ihr von vorn herein ausgeschlossen worden zu sein.
Das Ergebnis war schlichtweg peinlich und ist natürlich angreifbar, denn wer alleine ein Buch schreibt, sollte hierfür die eigene Worte wählen oder es bleiben lassen. Dass dies tatsächlich niemandem aus Baerbocks Team nervös machte, ist erstaunlich und deutet darauf hin, dass man dort eben keinen „Devil’s Advocat“ nutzte, als es notwendig gewesen wäre. Und es erstaunt zudem, festzustellen, wie die Partei auf diese offenkundigen Fehler reagierte: Bündnis’90/Die Grünen holten zu einem Gegenangriff aus, den man nur als dilletantisch bezeichen kann, denn im Grunde basierte die gesamte programmatische, strategische und rhetorische Arbeit der Bündnis-Grünen in den Jahren vorher darauf, zu integrieren, zu moderieren, eine gesellschaftliche Polarisierung zu vermeiden. Nun aber polarisierten sie und schossen aus dem Schützengraben.
„Fehler zugeben? Auf gar keinen Fall“, schien die Parole zu sein. Also streitet Mann/Frau Fehler ab und belehrt stattdessen. Von Demut keine Spur, dafür redet die Parteizentrale im Sommer 2021 von „Rufmord“ und versuchte Bündnis’90/Die Grünen als ‚die Guten‘ zu inszenieren, während die anderen Parteien Fake News verbreiten. Kopfschüttelnd nahmen die Deutschen zur Kenntnis, dass von einem „rechten Propagandakrieg“ (Tweet von Reinhard Bütikofer) die Rede war, einer „Dreckskampagne“ (Jürgen Trittin) oder dem angestauten Frust wurde dadurch Raum gegeben, dass man Armin Laschets Klimapolitik als einen Weg brandmarkte der den Menschen „das Leben“ kosten würde.
Gipfel der un-grün-absurden Attacken war die Äußerung der grünen Europaabgeordnete Hannah Neumann, die die Tagesschau daran erinnerte, dass ihre „lieben Journalist*innen“ eine Verantwortung hätten „für den demokratischen Diskurs, gerade nach Trump, gerade jetzt“.
Geschrieben von und © 2021 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining