WO IST MEIN KNÄCKEBROT GEBLIEBEN? | Weshalb es uns irritiert, wenn sich etwas verändert oder gar verschwindet

„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ (Hermann Hesse in „Stufen“)

Eines der Bücher der von mir verehrten Coaching-Expertin Sabine Asgodom heißt „Das Leben ist zu kurz für Knäckebrot“ – ich dagegen liebe das schwedische kurz, heiß und knackig gebackene Trockenbrot, esse zeitweise am Vormittag und Abend kaum etwas anderes als Unterlage. Meine bevorzugten Sorten sind seit Jahren Wasa „Mjölk“ und Wasa „Müsli Gourmet“ und da der Mensch ein Gewohnheitstier ist – gerade als Verbraucher – irritierte es mich schon ein wenig, dass vor einiger Zeit nahezu überall im Supermarkt oder beim Discounter Mjölk ausverkauft war und offensichtlich nicht wieder „eingeflyt“ wurde, wie meine Frau das Wiedereinräumen von Regalen nennt.

Das liegt daran, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist, wie das Sprichwort schon nahelegt. Er (m/w/d) hält an Beziehungen und Arbeitsplätzen fest, auch wenn sie ihm schaden, wagt eher selten und ungern den Sprung ins Unbekannte, kann einfach nicht loslassen, obwohl das erlernbar ist. Manche Menschen kaufen seit Jahrzehnten das Gleiche ein, greifen gerne zum Gewohnten, halten vertrauten Marken lange die Treue. Entsprechend irritiert sind die Reaktionen, wenn sich ein Produkt verändert oder gar nicht mehr verfügbar ist. Ich schrieb Wasa an und man berichtet mir, dass „Mjölk“ von Wasa selbst in „Milch und Joghurt“ umbenannt worden sei. Weshalb sie in vielen Regalen fehle, hänge damit zusammen, dass die Lebensmittelanbieter erst einmal ihre Bestellsysteme umstellen müssten, da in aller Regel ein laut Kassenmeldung ausverkaufter Artikel sofort nachbestellt werde und „Mjölk“ gebe es ja nun nicht mehr (… vom erheblich erhöhten Verkaufspreis nach dem Wiedereinflyen einmal abgesehen). Das Gleiche passierte mir ein paar Monate später mit der Wasa Sorte „Müsli Gourmet“, die aber auch knapp ein Jahr nach dem „Aus“ in den Regalen noch immer nicht ersetzt wurde.

Neurobiologen, Psychologen und Psychiater können inzwischen recht genau analysieren, warum sich manche Veränderungen für uns mitunter so bedrohlich anfühlen. Der zentrale Faktor sind spezielle Eigenarten unseres Oberstübchens, sind Urängste wie unser mächtiger Wunsch nach Bindung. Die ist gerade am Anfang unseres Lebens geradezu unverzichtbar. Ein Kleinkind ergreift den Finger seiner Geschwister, Eltern und Großeltern, schmiegt sich immer wieder an, weil Sicherheit für es ein biologisch verankertes Grundbedürfnis ist. Doch auch noch im Alter löst Unsicherheit bei fast allen Menschen Unbehagen oder Angst aus. Doch kann ein Erwachsener Mensch in solchen Momenten eher selten Schutz oder Körperkontakt zu seinen Bindungspersonen suchen, wenn er dies nicht als Schwäche gedeutet haben will. Gleichwohl aktiviert sich, wann immer im Leben Veränderungsängste auftauchen, unser Bindungssystem. Das heißt, wenn wir mit etwas Neuem kofrontiert werden, gibt uns das Gefühl, (wenigstens) an irgend etwas festhalten zu können, also gebunden zu sein, Sicherheit und Verlässlichkeit.

Daher pflegen Menschen Rituale wie die große Konzerttour vor dem musikalischen Ruhestand oder den Polter- bzw. Abschiedsabend vor der Eheschließung. Sie versichern uns der Unterstützung durch Fans oder Freunde. Zugleich verschlingt Neues zu verarbeiten in unserem Gehirn große Mengen Sauerstoff und Zucker – im Vergleich zur Ressourcen fressenden Großhirnrinde sind die darunter liegenden Bereiche der Basalganglien, das ist eine Gruppe von Großhirn- und Zwischenhirnkernen, die über 90 Prozent unserer Alltagshandlungen steuern, jedoch extrem sparsam mit Energie. Übt sich der Mensch im Ausführen von Automatismen (… angefangen beim Grüßen über das Kaffeekochen bis zu anderne täglichen Ritualen …) schüttet sein Geist körpereigene Opiate in Form von Wohlfühldrogen aus. Dies ist mit ein zentraler Grund dafür, weshalb Gewohnheiten so beliebt sind.

Wer sich also mit der Situation anfreunden möchte, dass es das geliebte Knäckebrot, den Kiosk am Eck, das vertraute Automodell nicht mehr gibt und nicht zur Minderheit von rund 20 Prozent der Menschen gehört, die genetisch bedingt Spaß am Neuen haben, Aufregung oder „den Kick“ suchen (Forschende nennen sie „Sensation seakers“), der braucht den beschützende Zauber, der jedem Anfang innewohnt, wie es Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ genannt hat. Der psychologische Schalter im Kopf, der hier betätigt werden muss, mutet paradox an und ist doch aus der eigenen Lebensentwicklung wohlbekannt: Je sicherer und geschützter sich ein Kind in seiner frühen Lebensphase fühlt, desto leichter fallen ihm die sinnvollen und notwendigen Ablösungsprozesse. Die erste eigene Fahrt mit dem Bus im Bewusstsein, immer wieder sicher zurück nach Hause gebracht zu werden, der Schulwechsel, der ja (anfangs) noch keine Trennung vom alten Freundeskreis sein muss, die erste eigene Wohnung, bei deren Ausstattung und Bezahlung oft die Eltern helfen.

Das alles stärkt ein stabiles Urvertrauen und Mensch kann sich sorglos auf den neuen Weg machen. Denn Bindung und Neugier auf die Veränderung sind eng aneinander gekoppelt: das eine geht nicht ohne das andere. Stellt man sich daher gedanklich dem Unausweichlichen („… mein Lieblings-Knäckebrot wird es wohl nie mehr geben …“) beeinflusst man dadurch die eigene Angstverarbeitung, bringt die Stressachse in ruhigeren Bahnen. Hat man hierbei keine Hilfe durch Familie, Freunde oder die eines Coaches (der auch die Funktion einer Bindungsperson innehaben kann), also keine professionelle Unterstützung, kann auch Selbstcoaching heilfreich sein. Mein Rat ist aber, sich bei Veränderungen nicht zu überfordern. Das Loslassen geht nicht ad hoc. Einfach mit dem Finger zu schnippen und schon ist das Leben anders und besser, funktioniert nicht. Den Schalter im Kopf zu drücken ist vielmehr ein Prozess, der unterschiedlich lange dauern kann.

Geschrieben von und © 2021 und ergänzt 2022 für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining

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