„Eine Halbwahrheit kommt selten allein. Schon der Plural, ohne den sie rein sprachlich selten auskommt, verweist darauf, dass man sie anders als die offene Lüge nicht ohne Weiteres widerlegen kann.“ (Gregor Dotzauer)
Halbwahrheiten gehören zu den auffälligsten und wirkmächtigsten Instrumenten des sogenannten postfaktischen politischen Diskurses, schreibt die Basler Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess in ihrem brillanten Buch „Halbwahrheiten: Zur Manipulation von Wirklichkeit“. Es sei ein Diskurses, der zwischen Relativismus und Zynismus schwanke und für den die Verwandlung von Fakten in bloße Meinungen ebenso typisch ist wie das Streben nach Aufmerksamkeit und die Demonstration autoritärer Setzungsmacht, so die Schweizerin.
Ob Fake News, Verschwörungstheorien oder populistische Propaganda: Sie alle kommen nicht ohne Halbwahrheiten und ihre Manipulation von Wirklichkeit aus. In ihrem Essay formuliert Gess eine Theorie der Halbwahrheit als narrativer Kleinform, die nicht nach dem binären Code wahr/falsch, sondern nach dem Empfinden glaubwürdig/unglaubwürdig funktioniert. Das bringt mich in meinem fünften Teil der Mini-Serie „Die Geschichte muss nicht stimmen, sie muss sich nur gut anhören“ endlich zum Punkt, den ich am Beispiel von zwei Journalisten festmachen möchte: Claas-Hendrik Relotius und René Pfister.
Rund zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Betrugsskandals beim Hamburger Nachrichtenmagazin „Spiegel“ sprach Relotius in einem Interview mit der Schweizer Zeitschrift „Reportagen“ erstmals ausführlich über seine gefälschten Texte. Er habe (Zitat) „in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht“, sagte der gefallene Held des Journalismus, der für seinen Arbeiten mit insgesamt 19 Preisen und zwei weitere Auszeichnungen ausgezeichnet worden war. Auf die Frage, wie viele seiner insgesamt 120 verfassten Texte in seiner Journalistenzeit korrekt waren, antwortete Claas Relotius: „Wahrscheinlich die allerwenigsten.“
Er habe beim Schreiben „nie niederträchtige Absichten (gehabt), und ich wollte auch niemanden verletzen, indem ich etwas Falsches schreibe“, so der mit dem Deutschen Reporterpreis 2018 ausgezeichnete Autor. Dass er „offensichtlich sehr viel Verantwortungsgefühl ausgeschaltet (habe), am meisten gegenüber Kollegen, aber auch gegenüber realen Menschen, über die ich geschrieben habe“, dies bereue er am meisten, wird er in der Schweizer Zeitrschrift zitiert.
An die Aufregung um René Pfister kann ich mich noch genau erinnern. Auch ich laß seinerzeit dessen im „Spiegel“ erschienenen und später preisgekrönten Text „Am Stellpult“, in dem sich Pfister kritisch mit dem Führungsstil des damaligen CSU-Chefs Horst Seehofer auseinandersetzte. Ärger für ihn ergaben im Nachgang die ersten vier „Am Stellpult“-Absätze über Seehofers Modelleisenbahn, als ihn bei der Übergabe des Henri-Nanne-Preises Moderatorin Katrin Bauerfeind fragte, wann Pfister in Seehofers Keller gewesen sei. Dieser antwortete, dass seine Beschreibungen auf Recherchearbeit und Berichten Dritter beruhten. Umgehend gab die Jury die Aberkennung des Preises bekannt, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass nicht die Qualität des Artikels bemängelt werde, sondern die Tatsache, dass Pfister nicht eigenen Erlebnisse beschrieben habe.
In der Folge erklärten namhafte deutsche Herausgeber, Redakteure und Journalistenkollegen, die Aberkennung sei nicht gerechtfertigt. Auch Pfisters Arbeitgeber reagierte mit „Unverständnis“ auf die Aberkennung und Horts Seehofer selbst erklärte, der Text sei zwar nicht angenehm für ihn, die Fakten aber seien zutreffend. Auch ich verstehe das Ganze nicht. Was wurde René Pfister vorgeworfen? Dass er Dinge inden Kontext seiner Geschichte einfügt, dass er etwas erzählt, was er nicht selbst erlebt hat? Ein fehlender Begehungsnachweis für den Seehofer-Kelle wurde ihm vorgeworfen, ein Nachweis, den man allerdings bei ähnlichen Reportagen, beispielweise über Berliner Kabinettssitzungen – dann offensichtlich zu Unrecht – fürher bei anderen Preisträgern nicht eingefordert hat.
Das eigene „Erlebnis“ ist keine triviale Unter-Kategorie bei Texten, die durch Dritte nach Belieben angemahnt werden kann, bevor die Artikel (oder auch meine Blogbeiträge) ernst zu nehmen sind. Das selbst Erlebte ist eben kein Kern für Texte, in denen es um ganz andere Zusammenhänge geht oder gehen soll. Fakt bei „Am Stellpult“ ist, dass Kollegen von Pfister tatsächlich im Seehoferschen Keller waren, er deren Feststellungen übernahm und zudem an keiner einzigen Stelle seiner Reportage behauptete, selbst dort oder dabei gewesen zu sein. Für mich jedenfalls steht fest, dass mich der glänzend geschriebene Artikel damals berührt und überzeugt hat. Dank der Arbeit René Pfisters.