„Es liegt nun einmal in der menschlichen Natur, vernünftig zu denken und unlogisch zu handeln.“ (Anatole France)
In der Verwaltung einer deutschen Großstadt wurde vor nicht allzu langer Zeit eine Umfrage durchgeführt. In dieser Umfrage bat man die Verantwortungsträger (d.h. Beigeordnete und andere Personen in Leitungsfunktion) anzugeben, welche Eigenschaften sie an ihren MitarbeiterInnen am meisten schätzen würden. Die Mehrzahl der Verantwortungsträger antwortete, die Mitarbeiter sollten neben Pünktlichkeit und Fleiß auch Kreativität beim Lösen von Problemen zeigen und gute Ideen einbringen. – Kreativität im Verwaltungsleben, in der Bürokratie? Klingt das zu schön, um wahr zu sein?
Wie viele andere Dinge auch, beginnt die Definition von „Kreativität in der Verwaltung“ mit einem Missverständnis. Manche Mitarbeiter oder Führungskräfte halten sich selbst für äußerst kreativ, nur weil sie (oft ohne es zu ahnen) die Zeit so geschickt totzuschlagen im Stande sind, dass in ihrem Umfeld niemand etwas davon bemerkt. Das folgende Beispiel ist aus dem Stadtarchiv einer Großstadt im Westen Deutschlands verbürgt:
Durch die Arbeitsagentur hatte man der betreffenden Dienststelle eine Unterstützngskraft (40) zugewiesen, doch hatte man sich um diese nicht im ausreichenden Maße gekümmert. Und so bemerkte man erst mit einigen Tagen Zeitverzug, dass man die neue Kollegin auf Zeit schon geraume Zeit nicht mehr gesehen hatte. Eine Suchaktion lief an und man fand sie in einer Nische des Archivs an einem kleinen Tisch sitzend und mit Eifer einer Tätigkeit nachgehen. Die Dame holte sich alte Akten und versah die einzelnen Blätter mit Lochverstärkungsringen. Auf die Sinnhaftigkeit ihres Tuns angesprochen erklärte die Dame, sie habe sich selbst eine Beschäftigung gesucht, da sich tagelang niemand um sie gekümmert habe und schließlich (Zitat) „werde ich ja vom Staat fürs Arbeiten bezahlt.“
Andere MitarbeiterInnen wiederum sind Meister darin, bei den unpassendsten Gelegenheiten selbständig – gleichwohl nicht selbstverantwortlich – zu handeln und zu arbeiten. Oder sie entwickeln eine große Kreativität darin, sich gegenseitig zu überlisten. In Bayern kam es Ende der 2000er Jahre einmal zu einem grotesken Machtkampf: Ein noch amtierender Bürgermeister und sein bereits feststehender Nachfolger (der zugleich sein bisheriger Stellvertreter war) hatten jeweils andere Vorstellungen von den Personen, denen trotz eines bestehendem Beförderungsstopps mit gerechtfertigter Begründung „geholfen“ werden sollte.
So gab der eine dem Personalamt seine Liste und bat, die betreffenden Personen in der nächsten Sitzung des Personalausschusses zur Höhergruppierung vorzusehen. Danach ging er in Urlaub und sein Stellvertreter ersetzte diese Liste durch seine eigene. Das wiederum wurde dem (Noch-)Amtsinhaber im Urlaub zugetragen und dieser kam extra für den Tag der Sitzung des Beschlußgremiums zurück; seine Liste wurde wieder auf die Tagesordnung genommen und beschlossen. Als er seines Sieges sicher wieder in Urlaub fuhr, ließ der Stellvertreter in der folgenden Sitzung einen Abänderungsbeschluß fassen und wiederum seine Liste bestätigen. – Fragen Sie sich da immer noch, ob Kreativität und Bürokratie zusammenpassen können?
Kreativität ist keine „mystische Kraft“, berichtet Carol Kinsey Goman bereits 1991 in ihrem Buch „Kreativität im Geschäftsleben“ und weiter schriebt sie, dass wohl jeder Mensch kreativ ist: der eine mehr, der andere weniger. Während der Arbeit am Buch stieß die Autorin nach eigenen Angaben beim Zeitungslesen auf folgendes Gedankenspiel, welches sie tief beeindruckte. Kinsey Goman: „Ein normaler Eisenstab ist 5 Dollar wert. Wenn man diesen Stab nun hernimmt und Hufeisen daraus fertigt, so erhöht sich sein Wert auf 10 Dollar. Wenn man Nadeln daraus macht, kann man zusammengerechnet 3.285 Dollar verlangen. Und produziert irgendwer aus dem gleichen Eisenstab Uhrfedern, so steigt der Wert des Eisens auf 250.000 Dollar. Der Unterschied, der zwischen 5 und 250.000 Dollar liegt, den macht ausschließlich die Kreativität aus.“
Nun arbeitet eine Verwaltung nicht mit Eisenstäben sondern mit Menschen – mit solchen auf der einen Seite des Schreibtischs und denen auf der anderen. Für beide Seiten, insbesondere, weil man/frau ja auch mit dem Geld der Steuerzahler arbeitet, sollte es möglich sein, durch die Anwendung von Kreativität in der Verwaltung neue Wege zu gehen und aus einem Zufriedenheitsgrad 5 der BürgerInnen mit ihren Verwaltungen einen von 250.000 zu machen. Hierbei wäre es zudem nicht schlecht, wenn Verantwortungsträger und MitarbeiterInnen in den Verwaltungen mit mehr Spaß und Zufriedenheit an ihre Arbeit gehen würden.
Geschrieben von und © 1994 (ergänzt 2021) für Rainer W. Sauer / CBQ Verwaltungstraining