SIK? (SCHALTER IM KOPF 17) | Was Binge-Watching mit dem Gehirn macht

Unser Gehirn ist auf spannende Geschichten programmiert – sie sind der süße Nektar für unsere Vorstellungskraft und der Treibstoff unserer Emotionen. Schon vor vielen Zehntausenden Jahren erfreuten sich Menschen wohl in schützenden Höhlen an der Feuerstelle verharrend an den Erzählungen über Jagderfolge oder vertriebenen Eindringlingen. Und damals wie heute schüttet unser zentrales Denkorgan Dopamin aus, denn es dafür fesselnde Szenen geboten bekommt: in direkter Erzählung, als Bucherlebnis oder Hörbuch, über den Bildschirm. Und Dopamin, ein Neurotransmitter, der uns für den Nervenkitzel belohnt und zugleich signalisiert: Ich will mehr davon!

Doch während ein guter Film oder ein einzelner TV-Tatort wie ein Genussmittel konsumiert werden kann, verwandelt sich ein Serienmarathon – auch Binge-Watching genannt – schnell in eine Art permanente Reizflut, deren Stimulation das Belohnungssystem überfordern und langfristig zu einer Art mentaler Erschöpfung führen. Ergebnis: man / frau kann einfach nicht mehr mit dem Schauen der Serie aufhören und muss alle Folgen bis zum Ende konsumieren; manchmal, bis bereits der neue Tag graut, die Augen brennen, der Nacken versteift ist und der Sog einer Serie sich bereits in eine Art Sucht verwandelt hat. – Was zum Teufel passiert eigentlich mit unserem Geist, wenn wir stundenlang in eine fiktive Welt eintauchen und uns von ihr regelrecht auslaugen lassen? Und wie betätigt man den Schalter im Kopf zum Abschalten [s.i.c.]?

Da nach einem Binge-Watching Marathon unsere Konzentration leidet (… auch weil sich unser Gehirn an die ständige Flut schneller Reize gewöhnte, die Dialoge, rasante Schnitte, offener Ausgang des Ganzen etc., und anschließend alles im realen Leben um uns herum plötzlich nicht mehr im Turbo-Tempo abläuft …), weil wir für einen vorübergehenden Zeitraum ein gehirn-gewaschenes Oberstübchen haben, das uns suggeriert, dass wir alltägliche Gespräche als langatmig empfinden, unsere Tätigkeiten auf uns deutlich mühsamer wirken und der private Alltag mühsam und anstrengend vorkommt, stellt sich die Frage: Wie kann man sich aus dem Sog von Streaming-Serien befreien?

Vorab eine gute Nachricht: Nicht jeder wird zum Serienjunkie und, ja, man kann sich aus dem Sog lösen. Andererseits sind Menschen, die akutem Stress entkommen wollen oder sich einsam fühlen, durchaus anfällig. Wer nach seinem stressigen Arbeitstag sehnsüchtig Erholung sucht, der sucht oft bei Netflix, Disney, Prime & Co. nach der neuesten, fesselnden Serie als eine Art Zufluchtsort. Ein Paar Stunden Schauen (also hier tatsächlich großgeschrieben = ZWEI) ist in aller Regel kein Problem. Doch wer mehr oder weniger regelmäßig ganze Nächte durchschaut, riskiert mehr als nur brennende Augen, bis hin zu schweren Schlafstörungen, da das Bildschirmlicht das Schlafhormon Melatonin blockiert, weshalb unser Gehirn im Wachmodus, selbst wenn die Augen längst zufallen. Ein paar Stunden Serien? Kein Problem. Aber wer regelmäßig ganze Nächte durchschaut, riskiert mehr als nur Augenringe. Schlafstörungen sind eine häufige Folge, denn das blaue Bildschirmlicht unterdrückt das Schlafhormon Melatonin. Das Gehirn bleibt im Wachmodus bleibt, selbst wenn uns für Minuten oder länger die Augen zufallen. Plötzlich wacht man aucf, orientiert sich am Plot, geht dorthin zurück, an was man sich zuletzt erinnern kann, und weiter geht’s. Verständlich aber gefährlich, denn statt sich aktiv zu erholen, verfallen Betroffene in eine passive Betäubung, die sie auslaugt.

Ob auch die Gedächtnisleistung unter exzessivem Serienschauen leidet, wovon manche Neurologen ausgehen, ist noch nicht erwiesen, doch könnte das Binge-Watching tatsächlich die Folge haben, dass sich unser Geist an eine oberflächliche Informationsverarbeitung gewöhnt und Inhalte anschließend zwar aufgenommen, aber nicht tiefgehend verarbeitet oder langfristig gespeichert werden. Hinzu kommt der Einfluss auf das soziale Leben. Wenn aus einem gelegentlichen „Heute bleibe ich mal daheim“ ein Dauerzustand wird, verkümmert allmählich das Bedürfnis nach echter zwischenmenschlicher Interaktion. Gespräche mit Freunden erfordern mehr kognitive und emotionale Anstrengung als das passive Konsumieren einer Serie. Hat sich das Gehirn erst einmal an den bequemeren Weg gewöhnt, kann selbst eine einfache Verabredung als ermüdend empfunden werden, man widmet sich kaum noch mit Elan realen Problemen und zugleich sinkt die Produktivität.

Der erste Schritt um den Abschalt-Schalter im Kopf zu drücken ist, sich der ganzen Misere bewusst zu sein. Wer registriert hat, dass das Endlos-Schauen von TV- oder Streamingserien bedeutend mehr Einfluss auf den eigenen Alltag hat, als angenommen, kann aktiv gegensteuern. Um den Aus-Schalter einfacher umzulegen (auch hier existiert durchaus eine Engelchen-/Teufelchen-Misere), dem sei es empfohlen, die gerade laufende Folge ganz bewusst ausreichend vor deren Ende zu stoppen oder einen Timer bzw. Wecker zu stellen, der an das Abschalten des Bildschirms erinnert. Wichtig ist hier Disziplin, Disziplin, Disziplin!

Doch am wirkungsvollesten ist es, sich die Dopamin-Kicks durch reale Ereignisse zu holen. Zwar mag beispielsweise ein Spaziergang im Wald keine spannende SF-Serie zu ersetzen, aber er bietet dem eigenen Oberstübchen die Möglichkeit, sich wieder mit den langsameren natürlichen Reize vertraut zu machen. Auch Sport, Fitnesstraining oder kreative Hobbys fördern die Konzentrationsfähigkeit und trainieren Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf gesunde Weise. Schafft man dies, sollte man sich selbst gegenüber das Anschauen von Serien nicht grundsätzlich verdammenn – einige Formate können sogar inspirierend oder lehrreich sein. Entscheidend ist immer die persönliche Life-Balance zwischen Konsum und bewusstem Erleben.

Letztlich ist es wie bei einem gutem Essen: In Maßen genossen, ist es nicht nur eine Nahrungsaunahme sondern wird zu einem echten Vergnügen. Und das unterscheidet es einerseits um Welten von schnell konsumiertem Fast-Food und man läuft andererseits nicht Gefahr, sein Gehirn mit billigen Reizen und künstlichen Geschmacksverstärkern zu überfluten.

Geschrieben von Rainer W. Sauer und © 2025 für BRAIN.EVENTS / CBQ & CBQ blue

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