VERGESSEN UND VERDRÄNGEN | Unbewusste Algorithmen in unserem Handeln (1/3)

»“Das habe ich getan“, sagt mein Gedächtnis. „Das kann ich nicht getan haben“ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.« (Friedrich Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“)

Wer kennt das nicht? Vor Kurzem noch hatten wir fest zugesagt, uns um eine wichtige Angelegenheit zu kümmern, nun erinnert man uns an das gegebene Versprechen, dass wir inzwischen schon wieder vergessen haben. Gehirn-genial betrachtet ist der Ausdruck „Verdrängung“ aber passender als „vergessen“, denn im grunde war das, wass in unserem Kopf passiert ist eher ein Ignorieren oder Wegschieben unangenehmer Aufgaben, Konflikte oder Erinnerungen. Die psychoanalytischen Ursprünge dieses Begriffs werden dabei oft übersehen. Umgangssprachlich beschreibt Verdrängung das bewusste oder unbewusste Vermeiden von Themen, die Unbehagen auslösen – seien es eine alltägliche Verpflichtung oder schwerwiegendere emotionale Belastungen. Solche Inhalte in unserem Oberstübchen werden häufig von einem nicht näher zu bestimmenden Algorithmus im Gehirn so weit im Denken „nach hinten weggeschoben“, dass sie unserem bewussten Erleben nicht mehr zugänglich sind und in den Bereich des Unbewussten gelangen. – Willkommen in der faszinierenden Welt der „unsichtbaren Algorithmen“ des menschlichen Gehirns.

Während das Vergessen eher lästiger Aufgaben meist durch einfache Unlust erklärbar ist, definiert die Psychoanalyse die Verdrängung bereits als eine Art komplexen Abwehrmechanismus, der dazu dient, unangenehme Gedanken, kaum erfüllbare Wünsche oder Erinnerungen, die mit Schmerz, Scham oder gesellschaftlicher Tabuisierung verbunden sind, aus dem Bewusstsein zu verbannen, um so mentalen Stress zu reduzieren. Um die bewusste Auseinandersetzung damit zu vermeiden, werden sie in das Unbewusste verdrängt. Dort jedoch entfalten sie eine eigene Dynamik, die potenziell dysfunktionale oder destruktive Auswirkungen auf das psychische Gleichgewicht haben kann. Welcher mentale Algorithmus ist hierfür verantwortlich?

Mit dem Begriff „mentaler Algorithmus“ meine ich eine eindeutige Handlungsanweisung zur Umgang einem Problem, die aus vielen unbewussten Einzelschritten besteht. Wie bei vielen Erinnerungen Deines Lebens verschwinden verdrängte Aufträge, Wünsche oder Bedürfnisse nicht aus der Psyche; vielmehr entwickeln sie im Unbewussten ein Eigenleben. Durch die Verdrängung entziehen sie sich für den Moment Deinem Einfluss, werden aber sozusagen reorganisiert und tauchen irgendwann aus dem Meer des Vergessens wieder auf – interessanterweise oft verknüpft und verstärkt mit neuen Ausprägungen verdrängter Wünsche und Bedürfnisse.

Diese Dynamik ermöglicht es Deinem zentralen Denkorgan, dass die verdrängten Inhalte in veränderter, teilweise symbolischer, Form erneut ins bewusste Erleben eintreten können. Nicht immer nur im aktiven Denken, sondern gelegentlich auch in Form von Träumen oder Fantasien. Psychoanalytische Herangehensweisen, die direkte Deutungen zum Verdrängten ohne Umschweife erkennen – etwa „Sie wollten das nicht machen, weil Sie faul sind“ – sind eher kontraproduktiv, wenn man verstehen will, was uns in unserem Handeln hemmt. Im „normalen“ Coaching (d. h.: eher nicht beim SpeedCoaching) setze ich daher mehr auf die Technik der freien Assoziation, wobei ich meinen Klienten dazu einlade, seine Gedanken frei zu äußern, ohne sie mir gegenüber selbst zu zensieren.

Der indirekte Ansatz ermöglicht es ihm, über Assoziationsketten allmählich auf das Verdrängte zuzugreifen. Sp kann beispielsweise die Frage „Was fällt Ihnen zu xyz ein?“ den Zugang zu Themen eröffnen, die zunächst weit entfernt vom eigentlichen Konflikt erscheinen. festzustellen ist, je weiter die Assoziationen vom ursprünglichen Thema entfernt sind, desto weniger Widerstand gibt es bei der Befassung mit dem eigentlichen Problem, den verdrängten Gefühlen und ihrem Ursprung. Historisch gesehen ist die „Verdrängung von Gedanken“ in der zentralen Theorie Sigmund Freuds beheimatet; Freud selbst erkannte jedoch an, dass Friedrich Nietzsche dieses Phänomen bereits 1886 in seinem Werk „Jenseits von Gut und Böse“ besonders prägnant formuliert hatte (siehe oben).

Dieser Aphorismus Nietzsches bringt die Dynamik der Verdrängung auf den Punkt: Es ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Gedächtnis, das die unbequeme Wahrheit, etwas vergessen zu haben, bewahrt, und dem Stolz, der diese Wahrheit ablehnt, um das Selbstbild zu schützen. Verdrängt wird nicht nur, was dem Gewissen widerspricht, sondern auch das, was die idealisierte Eigenbetrachtung gefährdet, also etwa Kränkungen, Scham, Niederlagen. Da ist es für die eigene Psyche angenehmer, zu erklären, dass man etwas schlicht vergessen habe.

Gleichwohl ist Verdrängung eine Form der Selbsttäuschung, die es ermöglicht, das Bild, das man von sich selbst hat („Eigentlich bin ich doch ein guter Mensch.“) aufrechtzuerhalten. Dieser Algorithmus der Unehrlichkeit gegenüber sich selbst, läuft aber unbewusst ab und dient dazu, das psychische Gleichgewicht zu schützen. – es ist also eine Art mentales Abwehrsystem. Mehr dazu erfährst Du in Teil 3.

Lesen Sie HIER Teil 2 des Artikels!

Geschrieben von Rainer W. Sauer und © 2021 bis 2022 für BRAIN.EVENTS / CBQ & CBQ blue

Hinterlasse einen Kommentar