NEBENBEI BEMERKT | Wie perfekt ist Perfektionismus?

„Nobody’s perfect.“ (Schlussatz im Billy Wilder Film „Manche mögens heiß“)

Perfekt sein zu wollen, ist eines der Phänomene, denen beispielsweise junge Menschen in der Social Media Welt nachjagen. Es ist ein ausgeprägtes Merkmal von zeitgenössischer Kultur, eine Zwangsstörung, also ein ernstes psychologisches Leiden, das auch seelisch belastet, weil es Menschen daran hindert, notwendige Risiken einzugehen. Und gelebter Perfektionismus führt dazu, dass sie darunter leiden, obwohl sie eigentlich perfekt sein wollen.

Das ist so, weil absolute Perfektion trotz aller Bemühungen ein im Grunde unerreichbares Ziel ist. Es ist eine Form der Beschäftigung mit dem Selbstbild, welche das emotionale Wachstum bremsen kann. Noch schlimmer: Hat man erst einmal angefangen, Bilder, Statements oder vermeintlichen sozialen und finanziellen Aufstieg gegenüber Dritten zu dokumentieren (… oft genug als Fake News …) darf man die Maske im Nachhinein nie fallen lassen. Selbst zu Hause nicht, wo alles perfekt zu  sein hat, bis hin zum letzten trendigen Serviettenring beim perfekten Dinner.

Dabei ist das Wort „perfekt“, wie es sowohl im Neuen Testament als auch beispielsweise in dem SF-Film „Das fünfte Element“ von Luc Besson verwendet wird, kein beängstigendes Wort. Es wird nicht vorgegeben als ein Ziel, wonach um jeden Preis zu streben ist. Denn es stammt von einem griechischen Wort ab und bedeutet nichts anderes als „vollständig“ oder „ausgewachsen“. Altgriechische Philosophen, könnte man sie mit einer Zeitmaschine in unsere Zeit beamen, würden das Wort „Perfektion“ daher eher als „reif“ oder „ausgereift“ interpretieren. Also nichts, was mit der Art von Selbstoptimierung durch kosmetische Eingriffe oder Filter zu vergleichen wäre, die heute vorherrscht.

Als meine Frau und ich 1996 ein Haus für unsere Familie suchten, fanden wir ein perfektes Objekt. Direkt am Saalbahnhof in Jena gelegen, in schlechtem Zustand, stark renovierungsbedürftig, teilweise sogar noch bewohnt, aber für unsere Verhältnisse bezahlbar. Heißt: Wir haben es über die Jahrzehnte zu unserem perfekten Haus werden lassen, wohlwissend, dass nicht jeder das so sehen würde. Bekannte von aus der alten Heimat Frankfurt am Main beispielsweise beklagten die Lautstärke der Züge, die Fülle der Reparaturprojekte, den in einem schlechten Zustand befindlichen Garten. Ja, haben wir gesagt, ein paar Dinge müssen repariert oder in Ordnung gebracht werden, bevor man einziehen kann. Aber selbst, da nun nach einem Vierteljahrhundert alle unsere Haus- und Grundstücksverbesserungen abgeschlossen sind, bezweifle ich, dass alle Menschen das für uns perfekte Haus wirklich perfekt finden würden. Und das stimmt auch, denn verglichen mit vielen in Magazinen und Websites abgebildeten Häusern, mit diesen perfekten Bildern, wird unser Haus immer unzulänglich und hoffnungslos unvollkommen erscheinen. Aber wie gesagt: für uns ist es perfekt.

Aber was ist Perfektion wirklich? – Das Wort klingt so eindeutig. Es scheint auf etwas Offensichtliches hinzuweisen, etwas Objektives und Unveränderliches, ein großes Ziel, das zu erreichen ist. Aber ich glaube nicht, dass das tatsächlich so ist. Denn Perfektion liegt im Auge des Betrachters. Und wir alle tragen unsere eigenen Variationen von Perfektion in unserem Geist mit uns herum.


Was könnte es bedeuten, perfekt zu sein? Vielleicht hat es gar nichts mit körperlichen oder äußerlichen Aspekten zu tun, vielleicht geht es eher in Richtung, ein liebevoller Partner oder Elternteil / Großelternteil zu sein, jemand, der hart arbeitet und zugleich auch noch gesellschaftlich ehrenamtlich oder freiwillig tätig ist. Vielleicht zeigt das Streben nach Perfektionismus aber auch darauf, sich auf ein einziges Ziel zu konzentrieren: ein versierter Künstler zu sein oder Sportler oder Akademiker, ein ausgezeichneter Koch oder Tischler oder Software-Entwickler, ein erfolgreicher und zugleich angesehener Politiker.

Was auch immer unsere Träume von Perfektion sein mögen, sie scheinen darauf ausgelegt zu sein, uns zu etwas Besserem im täglichen Leben zu führen. Und doch bewirkt Perfektion als Zwangsstörung am Ende, wie schon berichtet, bei vielen jungen Menschen oft genau das Gegenteil: Der Wunsch nach Perfektionismus hinterlässt ein finales Gefühl der Unvollkommenheit, Erfolglosigkeit und manchmal auch der Unfähigkeit. Doch wenn unsere Sehnsucht nach Perfektion dazu führt, dass wir uns unglücklich, deprimiert und erschöpft fühlen, dann sollte solches nicht erstrebenswert werden.

Die amerikanische Psychologin und Angstforscherin Tamar CHANSKY schreibt über einen ihrer Fälle: „Eine junge Anwältin, hatte in Bezug auf ihren Job einen zwanghaften Perfektionismus, der dazu führte, dass sie vorbeugend Medikamente gegen Sodbrennen einnahm und abends Schlaftabletten, um zur Ruhezu kommen. Jeder Aspekt ihrer Arbeit, also jede einzelne E-Mail, alle Telefonanrufe und so weiter, wurden von ihr ebenso ernst genommen, wie die Vorbereitung ihrer Gerichtsverhandlungen. Das Level ihrer Aufmerksamkeit für alle Dinge war am Ende unhaltbar und ging weit über das hinaus, was die anderen Partner in ihrer Kanzlei leisteten. Viele Perfektionisten wollen im Grunde gar keine Perfektionisten sein, haben aber Angst, es zuzulassen, sich ein wenig Nicht-Perfektionismus zuzugestehen, da sie denken, kein Perfektionist zu sein bedeute, dass man mittelmäßig, schlampig oder ein Versager ist.“

Oberflächlich betrachtet klingt Perfektion wie ein Preis, eine Auszeichnung. Aber kratzt man ein wenig am Lack, erkennt man schnell, dass allein das Ziel der Perfektion ein sicherer Weg scheint, sich selbst in Schach zu halten. Das Ergebnis ist ein ständiger Zustand der Reizbarkeit und Frustration, der nur selten unterbrochen werden kann. Zynisch ausgedrückt besteht der Bonus des Perfektionismus darin, sein Elend nicht mit den Menschen in seinem Umfeld teilen und dadurch mildern zu können. Perfektionismus zu leben wird daher oft tatsächlich zu einem psychischen Leiden, das unserer geistigen Gesundheit schadet und zu eine Bedrohung für unser Umfeld und die sozialen Beziehungen werden kann. Es ist inzwischen so weit verbreitet, dass einige Soziologen es sogar als ein „Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts“ bezeichnet haben.

Wissenschaftlich ausgedrückt fühlt sich jemand, der sich in einer perfektionistischen Geisteshaltung befindet, schrecklich, wenn ihm ein Fehler unterläuft. Denn dies scheint ein Beweis dafür zu sein, dass er oder sie versagt hat. Als Trainer und Coach versuche ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit deshalb damit, die positiven Aspekte des Fehlers in den Vordergrund zu rücken. Also nicht zu sagen: „Sehen Sie, Sie haben es vermasselt.“ Stattdessen ermutige ich meiner KlientInnen beispielsweise dazu, die Arme in die Luft zu recken, zu lächeln und zu sagen: „Sorry, das hätte ich jetzt nicht erwartet: Das war mein Fehler.“ Ich empfehle im Grunde allen Menschen (m/w/d), dies auszuprobieren. Oft lasse ich TeilnehmerInnen oder Coachees Texte lesen, etwa bei Übungen, Nachrichten zu sprechen und die Stimmlage nach und nach zu verändern. Das halte ich für eine wichtige Übung für öffentliches Reden. Und wenn jemand etwas falsch gesprochen oder ausgesprochen hat, gibt es keine verlegen offerierte Sprechpause, sondern man / frau sagt: „Sorry, das hätte ich jetzt nicht erwartet: Das war mein Fehler.“ Nach und nach wird dann automatisch nur noch „Sorry“ gesagt und im Kopf liefert man „Das hätte ich jetzt nicht erwartet: Das war mein Fehler.“ unausgesprochen nach. Sie werden feststellen, dass sich die negative Energie des Fehlers in positive umgewandelt hat – zumindest aber den Fehler an sich neutralisieren konnte.

Das Streben nach höchstmöglicher Perfektion wurde ja in den meisten großen Kirchen als eine Form entwickelt, die menschliche Sündhaftigkeit im krassen Gegensatz zu Gottes Vollkommenheit zu stellen. Der Humanismus lehrt uns aber, dass unsere „Erlösung“ nicht darin liegt, Gottes Willen (… sofern man an diesen glaubt. Für Atheisten sage ich mal: das Leben …) möglichst perfekt zu erfüllen. Sich heute noch der Barmherzigkeit eines allmächtigen Gottes zu versichern, sollte in einer pluralistischen Gesellschaft kein Gemeinschaftsziel sein, sondern vielmehr, dass wir die Verantwortung anerkennen, die wir in uns tragen, um bessere Menschen zu werden. (Humanisten glauben übrigens, dass unsere „Erlösung“ vor allem im Erreichen einer möglichst hohen moralischen Vollkommenheit unseres Lebens liegt.)

Fazit: Das Streben nach Perfektion kann zu einem ungesunden, unglücklichen Perfektionismus führen. Laotse lebte etwa sechshundert Jahre vor Christi Geburt in China, arbeitete in den Archiven des königlichen Hofes und war ein Zeitgenosse von Konfuzius. Sein Name bedeutet übersetzt „Alter Meister“ und er gilt als Begründer des Taoismus, soll den „Tao te Khing“ verfasst haben. Darin heißt es in Kapitel 45: „Wahre Vollkommenheit scheint unvollkommen, doch sie wird unendlich in ihrer Wirkung. Wahre Fülle scheint leer, dennoch ist sie vollständig vorhanden. Große Geradheit muss wie krumm erscheinen. Große Begabung muss wie dumm erscheinen. Große Beredsamkeit muss wie stumm erscheinen. Bewegung überwindet die Kälte, Stille überwindet die Hitze. Reinheit und Stille ist der Welt Richtmaß.“ Deshalb ist das Lernen, das Erwachsenwerden, fehlerhaft sein und aus Fehlern zu lernen, sich in seiner Haut wohl zu fühlen und die Verantwortung dafür zu übernehmen das eigene Leben (und später vielleicht auch das anderer Menschen) zu gestalten, philosophisch betrachtet das wahre Ziel von Perfektionismus.

Denkt man in diesem Sinne perfektionistisch, kann es sogar möglich sein, eine ärztliche Diagnose, etwa dass man gegen eine Krankheit nichts mehr wird unternehmen können, weil einen beispielsweise der Krebs innerhalb weniger Monate besiegen wird, dazu führen, nicht „wegzulaufen“ oder sich der Agonie hinzugeben, sondern das Leben so lange wie möglich weiterzuleben. Eine Mensch, der mir sehr nahestand, erzählte nur wenigen engen Verwandten und Freunden von seiner Krankheit und lebte und arbeitete so weiter, als mache ihm die Krankheit nichts aus. So konnte er bis wenige Tage vor seinem Tode lehren, was es für seine Schülerinnen bedeutete, dass er ihnen so viel Wissen weitergeben konnte, wie es ihm möglich war. Natürlich herrschte Trauer unter Ihnen, als sie von seinem Tode erfuhren, die größer wurde, als sie sahen, was er für sie getan hatte. Er berichtete ihnen in einem Brief posthum davon.

In diesem Brief hieß es u. a.: „Wenn wir trauern dürfen wir weinen. Aber wegen unserer Fehler laut zu weinen ist nicht notwendig. Die Welt braucht diesen Klang nicht und er bringt ihr auch nichts. Lasst uns stattdessen dem Gesang der Vögel lauschen, die sich nicht darum scheren, ob er perfekt ist oder nicht. Seien wir als Menschen dankbar dafür, dass die Welt in der wir leben entstanden ist und dass sie noch existiert. Lasst uns für alles an uns danken, das gut ist, auch wenn es unvollständig oder unvollkommen sein sollte. Und lasst uns verstehen, dass wir im Leben stolpern und fallen werden, in der Gewissheit, dass uns immer irgendetwas oder irgendjemand helfen wird, aufzustehen und es neu zu versuchen.“

Geschrieben von Rainer W. Sauer und © 2020 für BRAIN.EVENTS / CBQ & CBQ blue

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